Dritte Geschichte

[3] geschah an einem Talmidchochom (Schriftgelehrten), der hat all sein Tag niks anderst getan, neiert Tag un Nacht gelernt. Un er sturb so gar jung von Jahren. Da nahm sein Weib sein Tallis (Gebetmantel) un Tefillin (Gebetriemen) un ging in das Bethhamidrasch (Lehrhaus) zu den Rabbonim un sagt wider den Rabbi: »Es steht geschrieben in der heiligen Thauroh (Lehre): ›Die Thauroh, die is dein Leben un sie derlengt dir deine Täg‹. Nun, mein Mann, der hat Tag un Nacht niks anders getan, neiert gelernt. Warum is er denn so jung von Jahren gestorben?« Da war niem(an)t im Bethhamidrasch, der ihr drauf konnt antworten. Sie wußten in Emes (Wahrheit) keinen Taam (Grund) nit, warum er so bald war gestorben. Nit lang darnach war ein Talmidchochom bei ihr zu Gast über Nacht. Da sagt sie ihm auch die Schmue (Geschichte). Da frägt er die Frau: »Liebe Frau, laß mich dich frägen, wie hat sich dein Mann bei dir gehalten, wenn du bist niddah (unrein) gewesen?« Da sagt sie ihm wider: »Chaß wescholaum (bewahre), daß er mich sollt angerührt haben mit dem kleinen Finger, will verschweigen (geschweige), daß er sollt eppes anderst mit mir getan haben. Du frägst gar ein seltsam Ding, un das von einem Talmidchochom.« Da frägt er sie wieder: »Sag mir, wie hat er sich aber gehalten, wenn du hast weiß angelegt?« Da sagt sie: »Er hat wol mit mir gegessen un getrunken un is bei mir gelegen mit bloßem Leib, aber er hat mich garnit angerührt.« Wie der Talmidchochom das von der Frau hört, da sagt er: »Gelobt sei Gott, der niks unrecht laßt, daß er den Menschen hat lassen jung sterben. Denn es steht in der heiligen Thauroh geschrieben, wenn eine Frau unrein is, da soll ihr Mann nit zu ihr nähern, un er soll sie afilu (sogar) nit anrühren. Un der Talmidchochom hat nit gehalten, was in der heiligen Thauroh geschrieben steht. Derhalben hat ihm der Heilige, gelobt sei er, lassen sterben, un hat ihm gar recht bezahlt.« Derhalben soll man halten, was in der heiligen Thauroh geschrieben steht.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 3.
Lizenz:
Kategorien: