Vierundsiebzigste Geschichte

[67] geschah: Rabbi Tarfen, der war ein köstlicher Mann, gleich wir ihn auch finden in den Perokim (Sprüchen), Der ging einmal vor einem Weingarten vorbei in der Zeit als die Feigen zeitig waren un er esset von den Feigen. Nun hat der selbige Weingarten einen Schaumer (Wächter), der hütet den Weingarten, denn es war ihm durch das ganze Jahr viel Feigen aus dem Garten genommen. Un er konnt nit wissen, wer es getan hat. Un jetzunder meint der Schaumer, weil er hat Rabbi Tarfen derwischt, daß er hat ein Feigen abgerissen, so is er der rechte Ganew (Dieb). Un der Schaumer ging hin un stößt den guten Rabbi Tarfen in einen Sack un wollt ihn in das Wasser tragen. Un wie er nun den guten Rabbi Tarfon zum Wasser getragen hat, un wollt ihn herauswerfen aus dem Sack, da schrie der gute Rabbi Tarfon aus dem Sack: »Weh, dir Rabbi Tarfen, man will dich jetzunder töten!« Da das der Schaumer hört, daß es Rabbi Tarfen war, da legt er den Sack nieder un lauft hinweg, un so ging Rabbi Tarfen aus dem Sack heraus. Un darauf hat gesagt Rabbi Abe von Rabbi Chananie ben Gamliel wegen, all seine Tag von dem Rabbi Tarfen, weil er noch gelebt hat: »Da hat er Schmerz gehabt darüber, daß er sich hat mazil gewesen (gerettet) durch seine Thauroh. Denn da der Schaumer hört, daß es Rabbi Tarfen war, denn er war ein köstlicher Talmidchochom (Schriftgelehrter) da ließ er ihn gehn, von seiner Thauroh wegen. Denn es soll sich keiner mazil sein (retten) von seiner Thauroh wegen.« Denn wir lernen es von Belschazer durch ein kal wochaumer (ein Schluß vom Leichteren auf das Schwierige): Hat doch Belschazer der die Kelim (Gefäße), die waren heilig gewesen, die da waren gekommen aus den Tempel, die hat er zu unheiligen Dingen gebraucht, un war dadurch ausgerissen worden von dem Aulom (Welt). Mikolscheken (um wie viel mehr) einer, der die Thauroh braucht, die is ja gar heilig, um zu unheiligen, mikolscheken, daß er verloren wird von dieser Welt. Derhalben hat er sich gekränkt, denn er hat den Schaumer wol mit Geld können bewilligen, daß er ihn hätt' gehn gelassen un sich nit durch seine Thauroh ledig machen. Denn der Rabbi Tarfen war ein sehr reicher Mann gewesen. Gleichwie wir auch seine Red gefunden in den Perokim, daß er spricht: Es soll sich keiner dernähren von der Thauroh. Das meint, es soll keiner sein Thauroh genießen. Derhalben hat es Rabbi Tarfen sehr[67] geschmerzt, weil er durch seine Thauroh is gerettet geworden von dem Schaumer.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 67-68.
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