Geleitwort

Moses Mendelssohn betont gelegentlich, daß die hebräische Sprache kein eigentliches Wort für das hat, was wir Religion nennen. Das Judentum kannte auch bis, zu seiner Zeit keinen systematischen Religionsunterricht. Dennoch hat es den Juden nicht an Religion gefehlt. Ein Jahrhunderte währendes Martyrium ohne Gleichen beweist den Heroismus ihres Glaubens. Was hätte ihnen, sonst die Kraft verliehen, den Lockungen der Welt dauernd zu widerstehen, wenn nicht der feste Glaube an Gott, das unerschütterliche Vertrauen in seine Vorsehung, die sichere Hoffnung auf das Kommen seiner Erlösung? Daß dieses Wunder geschehen konnte, verdanken wir nicht zuletzt dem erzieherischen Einfluß der jüdischen Frau und Mutter. Ohne lehrhaft zu sein, hat sie durch ihr Beispiel, durch ihre Unterhaltung ihren Kindern jene tiefen Gefühle der Frömmigkeit, der Menschenliebe und Zuversicht eingeflößt, welche zahlreichen Generationen von Juden und Jüdinnen Leitmotive des Lebens und Sterbens gewesen sind. Berthold Auerbachs Skizze »Was uns unsere Mutter erzählte« zeigt uns, wo unsere Ahnfrauen ihren Bildungsstoff wählten und mit welcher Nutzanwendung sie ihn ihren Kindern mitteilten.[3] Eine der Quellen ihrer Belehrung und Unterhaltung ist das Maasse-Buch gewesen, eine Sammlung von Geschichten aus dem jüdischen Legendenschatz, wie er vornehmlich im Talmud und Midrasch vorliegt, aber auch der sonstigen Weisheit des Morgenlandes und der mittelalterlichen Volkserzählung entnommen ist. Sie handeln von Gottes Allmacht und Weltregierung, von seinem Gesetz nnd seiner Güte, von Lohn und Strafe, von Diesseits und Jenseits, von Vergangenheit und Zukunft. Sie handeln von Alltag und Festtag, von Arbeit und Ruhe, von Freud und Leid, vom Leben in der Familie und draußen, von Herren und Dienern, von Eltern und Kindern, kurz von all den Beziehungen zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Mensch. Sie sind schlicht und volkstümlich dargestellt, aus dem ursprünglichen Gewande in die Sprache des Alltags übertragen, daher auch dem Ungelehrten zugänglich, das Lieblingsbuch des einfachen Mannes und vor allem der Frau geworden. Sie sind von naiven, aber gläubigen Menschen zusammengestellt, ohne Kunst gewählt, aber immer in der Absicht, religiöse oder sittliche Lehren zu vermitteln. Bald ist es die innige Gottesfurcht, das unbesiegbare Gottvertrauen, bald die tiefe Menschenliebe, bald das strenge Gerechtigkeitsgefühl, bald wieder die selbstlose Hingabe der Helden, die in diesen Geschichten erzählt wird, immer in schmuckloser, fast kindlicher Weise, aber stets in eindringlicher Nutzanwendung. Diese Erzählungen waren, wie schon die zahlreichen vorhandenen Drucke beweisen, der vielbegehrte Lesestoff der jüdischen Frau, sie wurden der Unterhaltungs- und Lehrstoff der jüdischen Mutter, eine Erhebung[4] zum Ewigen und Göttlichen, eine Quelle der Frömmigkeit und Demut, der Lauterkeit und Selbstverleugnung, der Hoffnungsfreudigkeit und des Lebensmutes des jüdischen Menschen.

Bertha Pappenheim hat es unternommen, eines dieser Maasse-Bücher, die Ausgabe von Amsterdam 1723, aus den hebräischen Schriftzeichen, in denen es gedruckt ist, in die deutsche Sprache umzusetzen. Wie sie die Vorkämpferin für die Rechte der jüdischen Frau geworden ist, so will sie mit diesem Buche der jüdischen Frau und Mutter einen alten Schatz jüdischen Gemütslebens wiedergeben, damit sein Gehalt auf die Verinnerlichung und Vertiefung des religiösen und sittlichen Lebens unserer und der kommenden Tage wirke!


Berlin, im August 1929


I. Elbogen

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. III3-V5.
Lizenz:
Kategorien: