LVI.

[93] Harun Raschid, welcher der schlaflosen Nächte [Rand: Alaim.] so viele hatte, wandelte in einer derselben durch die Gallerieen des Pallastes, und stieß auf eine schlafende Sklavin. Er fragte sie: Willst du nicht beherbergen mit Gastfreundschaft einen verirrten Fremdling bis zum Morgen? – Mit Freuden, war die Antwort. Harun brachte die Nacht bey ihr zu, und als er am Morgen sich in den Audienzsaal begeben hatte, fragte er wie gewöhnlich: wer draußen sey von den Hofdichtern. Man nannte Ebu Nuwas. Der Chalife ließ ihn kommen, und befahl ihm etwas vorzuerzählen aus dem Stegreife. Ebu Nuwas improvisirte:


Die Nacht war lang, der Schlaf floh von den Wimpern,

Ich tauchte in die Fluthen der Gedanken,

Ich stand und sann, und gieng dann wieder weiter

In den gewölbten Hallen des Pallastes.

Sieh' da! ein Antlitz, glänzend wie der Morgen,

Wenn er mit Silberlicht im Osten lachet.

Ich weckte sie, sie sprach: Was giebt's, Freund Gottes?

Ein Fremdling, sprach ich, ist's, er wünscht, du möchtest

Gastfreundlich ihn bewirthen bis am Morgen.

Sehr gerne, war die Antwort, will ich ihn bewirthen

Mit Ohr und Aug', mit Händen und mit Füßen.


Der Chalife, ganz erstaunt, seine Nachtgeschichte[93] schon in Verse gebracht zu sehen, beschenkte reichlich den Dichter, der, wie man sieht, sehr gut vom Innern des Harems unterrichtet war, sey es durch die Verschnittenen, sey es durch die Nebenbuhlerinnen der Sklavin.

Quelle:
Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr von: Rosenöl. Stuttgart/Tübingen: Cotta, 1813, S. 93-94.
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