Abt und Äbtissin

[193] Besuchte einmal ein Abt aus Smyrna die noch immer sehr schöne und gewitzigte Äbtissin eines nahen Frauenklosters. Und da es Fastenzeit war, taten sie sich an der besten Fastenspeise gütlich, o ja, sie hatten strenge Grundsätze! Nur ihr Fleisch war willig und sündigte gern; und da der Abt ein fester Herr war und seine kurzen Arme über dem Ränzlein, das er sich angemästet hatte, kaum zusammenbrachte, so sündigte er oft wider das Fleisch und lustwandelte gern in den Weinbergen des Höchsten, die ihm auch immer willig und freudig aufgetan wurden. Und heute hob er seine lustigen schwarzen Augen auf, fuhr mit seiner fleischigen Rechten über die Stirne und sah auf die Äbtissin, ob sie wohl zu einem Spiele geneigt sei. Die aber war hinterhältig, tat nicht desgleichen und sprach:

»Wollen wir uns im Klostergarten ergehen, Herr Abt, kühl ist es dort unter den Zypressen und der Blumenduft wird uns umschmeicheln?«

Sagte der darwider: »O, meine Schwester, nein. Heiß ist's draußen. Und nach dem Mahle bedarf man der Ruhe und etwa behaglichen Zeitvertreibs!«

»So wollen wir denn hier in Ruhe die Bibel lesen.«[194]

»Gern,« seufzte der Abt.

Und die Listige kramte eine Bibel hervor, öffnete die Schließen und rückte sie dem Abt hin. Sie aber setzte sich ihm gegenüber und las in ihrer Bibel.

Sie lasen also; der Abt aber stöhnte leise von Zeit zu Zeit, das hurtige Weiblein lächelte verschmitzt.

Und sie lasen.

Fing der Pfaffe an: »Was leset Ihr, liebe Mutter? Sagt mir den Vers an.«

»Gerade dieses Wort, Herr Abt: Sprich mich an und ich gewähre dir ...«

»Ist's nicht erstaunlich,« entgegnete der fein und klappte eilig sein Buch zu, »ich las soeben: Ich hebe deine Beine auf, daß du nicht vom Schlummer befallen werdest. Tun wir denn also, Frau Äbtissin!«

Und handelten nach dem Worte.

Quelle:
[Hansmann, Paul] (Hg.): Schwänke vom Bosporus. Berlin: Hyperionverlag, [1918], S. 193-195.
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