[88] 29. Die Schlange

[88] Auf Oba gingen eines Tages zwei Frauen von den Bergen zum Meer hinab, um sich dort Salzwasser zu holen. Da sahen sie, wie sich eine kleine Schlange neben den Wassergefäßen aufringelte; und die eine Frau sagte: »Hör' mal! Mir tut das kleine Ding leid, wir wollen es als Kind annehmen.« Das taten sie denn auch und kehrten in die Berge nach ihren Hütten zurück. Dort setzten sie die kleine Schlange in eine Kokosschale; und sie pflegten sie so gut, daß sie bald groß wurde, und die Kokosschale platzte. Nun brachten sie ihr Pflegekind ein einen runden Korb; aber es wurde immer größer, und schließlich zerriß auch der Korb. Nun taten die beiden die Schlange in einen Schweinetragkorb; aber sie fütterten sie dermaßen, daß sie noch größer wurde, und auch der neue Korb zerriß.

Als der Korb entzwei war, sagten die beiden zu ihren Nachbarn: »Sie hat uns unsere Körbe zerrissen, kommt und holt Holz zusammen und baut einen Kofen.« Darauf setzten sie sie hier hinein; aber die Schlange wuchs noch immer, auch der Kofen barst; als er aus den Fugen war, da wußten sie nicht, was sie tun sollten. Sie bekamen Angst.

Und richtig, die Schlange fraß die beiden auf. Dann legte sie sich an einer Stelle hin, von wo aus man das Meer und den Weg überblicken konnte. Wenn dort ein Mensch vorüberkam, fraß sie ihn auf. So verzehrte sie allmählich alle Menschen; nur zehn blieben übrig; und die wohnten weit weg.

Da schickte sie einen Boten und ließ ihnen sagen: »Bringt mir einen Häuptling, ich will ihn fressen.« Als die Tochter des Häuptlings die Worte vernahm, sprach sie: »Ich werde hingehen; sie soll mich fressen; bleibt ihr hier und beschützt das Land.« Der Vater schenkte ihr nun schöne Schmucksachen: [89] einen herrlichen Gürtel, Armbänder aus Schweinehauern, Fußbänder aus Schneckenschalen, duftendes Öl; dann schickte er sie los und sagte: »Nun geh!«

Sie ging nun immerfort, weiter und immer weiter; und plötzlich begegnete sie einem Mann, der stand mit seiner Frau vor der Hütte am Wege; ihr Essen brodelte über dem Feuer, aber es war noch nicht fertig, denn sie hatten die Blätter, mit denen die Töpfe zugedeckt waren, noch nicht abgenommen. Sie sagten: »Du! woher kommst du? Wohin willst du?« Sie antwortete: »Ich will mich von der Schlange fressen lassen, damit mein Vater leben bleibt.« Der Mann erwiderte: »Bitte, geh' jetzt noch nicht; ruhe dich ein wenig aus; wir wollen zusammen essen, und dann kannst du weiterziehen.« Sie aßen; und als sie satt waren, nahm der Mann den Gürtel seiner Frau und gab ihn dem Mädchen; es band ihn um; er schenkte ihm auch die anderen Schmucksachen seiner Frau, und das Mädchen gab ihr dafür seine eigenen. Darauf sprach der Mann: »Nun geh', wir wollen mal sehen, ob sie dich nun frißt.«

Sie ging auf dem Wege weiter. Und er sandte seinen Hund durch den Busch nach. Als das Mädchen bei der Schlange ankam, sah sie es an und wollte es verschlingen; sie steckte die Zunge heraus und schlängelte sich heran, um es überzuschlucken. Das Mädchen sprach: »Schön, friß mich.« Sie wollte es verschlingen; als aber der Hund das sah und meinte, daß die Schlange seine Herrin verschlucken wollte, da lief er sogleich hinten herum, packte sie mit den Zähnen und riß ihr den Schwanz aus. Die Schlange rollte sich zusammen; ein Zittern ging durch ihren Körper, und dann war sie tot. Als das Mädchen sich gerettet sah, kehrte es wieder zum Vater heim.

Ein anderer Mann hörte von der Geschichte; er ging hinter ihm her; und als er beim Vater des Mädchens ankam, belog er ihn: »Mein lieber Freund, deine Tochter ist nun gerettet; ich hatte Mitleid mit ihr, und schickte ihr meinen Hund nach, der biß und tötete die Schlange und befreite [90] so deine Tochter. Gewährt mir daher die Bitte: Laßt sie meine Frau werden, dann sieht sie doch, wer sie gerettet hat.« Der Vater erwiderte: »Du hast recht; sie soll deine Frau werden, und ihr sollt beide bei mir hier im Hause wohnen.« Er zog aus dem Hause aus und mietete sich anderswo ein; und die beiden wohnten in seinem Hause.

Der Mann, der das Mädchen aber wirklich befreit und den Hund mitgesandt hatte, war auch mit seiner Frau hinterhergegangen. Als er bei dem Vater des Mädchens erschien, sagte er: »Woher ist der Mann gekommen, dem du deine Tochter zur Frau gegeben hast?« Der Vater antwortete: »Er folgte meiner Tochter hierher, und er sagte mir, daß sein Hund meine Tochter befreit und die Schlange totgebissen habe.« Der Mann antwortete: »Das ist nicht wahr, er lügt; ich und meine Frau, die dort steht, haben den Hund fortgeschickt, der die Schlange totbiß.« Er setzte hinzu: »Paß auf, du wirst es schon sehen! Ruf' mal den Mann her.«

Der Vater rief ihn, und er kam. Er sagte zu ihm: »Rufe deinen Hund und befiehl ihm, er soll sich dort auf den Fleck hinsetzen, meiner bleibt hier.« Dann setzte er hinzu: »Schön, nun soll er sich erbrechen.« Der andere Mann befahl es; aber der Hund erbrach nichts, er hatte ja nichts von der Schlange gefressen. Nun befahl er seinem Hund, sich zu übergeben. Der erbrach ein Stück Schlange, das fiel ihm aus dem Maul. Da sagte er zum Häuptling: »Nun urteile selber!«

Der Häuptling ärgerte sich und sagte zu dem andern Mann: »Du hast mich belogen, marsch, aus meinem Haus hinaus, meine Tochter ist deine Frau nicht mehr.« Beschämt zog der Betrüger von dannen. Der Vater gab aber seine Tochter an ihren Erretter. Der zog nun in das Haus ein, und sie lebten fortan alle beieinander.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 88-91.
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