[149] 34. Napoleon ist ein Tonga-Mann

Kein Volk ist auf der ganzen großen Erde so edel und tapfer wie wir, die Leute von Tonga. Andere Völker mögen wohl mehr Menschen zählen, wohlhabender, reicher sein; vielleicht sind sie auch stärker; mannhafte Tüchtigkeit und Tapferkeit sind allein bei uns zu Hause und entstanden bei uns. Aus unserem Volke sind die großen Krieger hervorgegangen, deren Namen jeder mit Bewunderung nennt, denn ihre Taten erfüllen die Welt mit Ruhm. Die Taten verrichteten sie nicht allein in unserm Volke, nein, auch fremde Völker wissen sie zu schätzen.

Auch Napoleoni ist ein Sohn Tongas gewesen. Seine Mutter kam aus dem Lande Merikei zu uns auf einem Schiffe, das viele Tage hier blieb, um Walfische zu jagen. Sie war eine schöne, große, schlanke Frau. Dann fuhr sie wieder in ihre Heimat zurück und bekam dort einen Sohn, den sie Napoleoni nannte.

Vornehmer Fidjimann
Vornehmer Fidjimann

Der Junge wuchs heran und wurde groß. Eines Tages [149] schickten die Leute von Faranise Gesandte nach Merikei, die sollten dort um Hilfe gegen Uelingtoni bitten, der ihr Volk in vielen Schlachten geschlagen, ihren König und alle seine Söhne getötet hatte. Ihr Oberpriester hatte ihnen prophezeit, daß sie in Merikei den Sohn eines braunen Vaters finden würden, dem niemand widerstehen könnte, und der sie zu Kampf und Sieg führen sollte. So segelten sie über das große Wasser nach Merikei, um sich ihren künftigen Führer zu holen. Das war eine beschwerliche Sucherei. Überall, wo sie hinkamen und nach dem Sohne eines braunen Vaters fragten, wurden sie von den Leuten verspottet. Die Straßenjungen liefen hinter ihnen her und riefen: »Wir sind Söhne brauner Väter, nehmt uns mit, dann werden wir euch schon Siege erringen!« In einem Dorfe, dessen Name nicht mehr bekannt ist, wurden sie schmählich angeführt. Die Jungen versprachen ihnen, sie zu dem Befreier ihres Volkes zu führen. Und sie freuten sich sehr.

»Endlich haben wir Erfolg,« sagte einer zum andern. »Nun hat alle Mühe ein Ende und wehe, wehe dir jetzt, Uelingtoni!«

»Ihr habt recht,« antworteten die Jungen, »eure Mühen haben jetzt ein Ende, wehe dir, Uelingtoni! Aber kommt nur und haltet euch nicht auf.« Dann führten sie die Gesandten zum Dorf hinaus zum Hause eines Bauern, der im Walde lebte, und zeigten den Leuten aus Faranise ein – Kalb.

»Hier ist der Gesuchte,« sagten sie, »sein Vater ist braun.«

Die Gesandten aus Faranise wandten sich ab und gingen traurig weiter, während das schallende Spottgelächter der Jungen ihnen in den Ohren dröhnte.

Spät am Tage kamen sie gegen Abend an ein kleines Haus, das einsam und allein mitten im Walde stand; in ihm wohnte die Mutter von Napoleoni.

»Laßt uns hier einmal anfragen,« sprach der Führer. »Vielleicht finden wir ihn; denn der Oberpriester log uns nichts vor; und er sagte uns doch, daß wir in diesem Lande unseren [150] Befreier finden würden. Deshalb wollen wir auch hier nachfragen.«

Sie taten es. Die Mutter von Napoleoni schrie vor Verwunderung laut auf, als sie die Worte vernahm. »Wer seid ihr?« rief sie, »woher wißt ihr, daß der Vater meines Sohnes braun war?«

»Wir sind Häuptlinge,« antworteten sie, »und kommen aus Faranise. Wir suchen den Sohn eines braunen Vaters, der uns von unserm Feinde Uelingtoni befreien und all das Leid rächen soll, was er über unser Land brachte. Unser Oberpriester schickte uns hierher. Er sagte, wir würden hier den Befreier des Landes in dem Sohne eines Vaters finden, dessen Haut braun ist.«

Die Frau wußte zunächst nicht, was sie vor lauter Verwunderung sagen sollte. »Euch sandten wirklich die Götter,« rief sie, »ich habe einen Sohn, und sein Vater ist ein mächtiger Häuptling in Tonga. Aber mein Sohn ist taub. Er sitzt hier neben mir auf der Matte; wie kann er denn euer Führer sein?«

Napoleoni hatte vordem nie ein Wort gesprochen, denn seit der Geburt war er taub und stumm gewesen. Nun stand er auf und redete, denn seine Zeit war gekommen. Als er sich von der Matte erhob, war er größer und stärker als die Fremden.

»Ich bin der Gesuchte,« sagte er, »kommt! Laßt uns zum Boot gehen und absegeln, damit ich euch zum Sieg führen kann. Lebe wohl, liebe Mutter! Bleibe gesund und munter, bis ich im Triumph wiederkehre, wenn ich die Feinde unserer Freunde geschlagen habe. Komme ich nicht wieder, so werde ich nach dir schicken und dich in das Land holen lassen, in dem es mir am besten gefällt.«

»Lebe wohl, mein Sohn,« antwortete die Mutter und begleitete ihn zur Tür, wo sie ihm eine in der Nähe blühende Blume abpflückte, »geh nun, und die Götter mögen dich beschützen! Nimm diese Blume mit, und wenn du sie ansiehst, dann gedenke deiner Mutter und deines Vaters.«

[151] Es war eine rote Blume.

Er wurde der Führer der Männer in Faranise. Nun könnte ich euch von den großen Taten erzählen, die er verrichtete – – – wie er die Feinde von Faranise zerschmetterte, obschon die sehr zahlreich und stark waren; auch davon, wie er Uelingtoni von einem Land zum andern verfolgte, bis er ihn schließlich bei Uatalu fing und auf eine einsame Insel verbannte, wo er starb.

Davon könnte ich euch mancherlei erzählen, aber weshalb? Jeder kennt doch seine Taten! Ich berichtete euch nur von seiner Geburt und Reise nach Faranise, weil die Leute von Faranise die Wahrheit verbergen und behaupten, daß er einer von ihnen gewesen ist und auf einer Insel geboren wurde, wo die Heimat der königlichen Familie ist. Sie lügen, denn sie beneiden uns Tonganer wegen unserer Größe. Auch die Leute von Merikei beanspruchen ihn ebenfalls für sich, weil unter ihnen braune Menschen leben. Ich habe euch jedoch die Wahrheit erzählt: Napoleoni ist ein Tonganer.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 149-152.
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