4. Die beiden Brüder

[8] Es waren einmal zwei Brüder; solange ihr Vater lebte, arbeiteten sie nach dessen Befehl, der eine ging aufs Landgut, der andere hütete die Schafe. Aber als der Vater gestorben war, wurde der älteste Hausherr, und der jüngste arbeitete immer außer Hause, war dem Bruder ganz gehorsam und kam selten heim. Der ältere aber arbeitete gar nicht, sondern saß zu Hause und bewirtete seine Freunde, hielt schöne Pferde, Jagdhunde und Jagdfalken und lebte wie ein großer Herr.

Mit der Zeit wurden sie noch reicher; der ältere war verheiratet,[8] der jüngere nicht, und er kam nur alle großen Festtage nach Hause.

Als er einmal an einem solchen Festtag ins Dorf kam, begegneten ihm einige Bauern, die ihnen neidisch waren und sie auseinanderbringen wollten; die sagten zu ihm: »Bist du deines Vaters Sohn oder nicht?« – »Wie denn nicht?« antwortete er. – »Nun, wenn es so ist, warum bist denn du den ganzen Tag an der Arbeit, bei den Schafen, auf dem Felde, in Gewitter, Sturm und Sonnenbrand? Eine Plage machst du dir, wie sonst keiner; und dein Bruder, der ältere, lebt wie ein großer Herr, Kleider, Essen, Trinken in Fülle, geehrt und gepriesen, und du wie sein Diener. Geh mal und sag ihm, er soll deine Arbeit tun, und du willst zu Hause bleiben, da wirst du sehen, ob er dein wahrer Bruder ist oder nicht.«

Der jüngere antwortet ihnen nicht darauf, aber es fraß ihm am Herzen. Er ging zur Nacht nach Hause, übernachtete dort, und als er am andern Morgen aufgestanden war, sagte sein Bruder ihm: »Wie hast du die Nacht zugebracht, Bruder, hast du gut geschlafen?« – Der aber antwortete ihm: »Ach, Bruder, kein Auge habe ich zugetan.« – »Warum?« fragte der ältere. – »Ja sieh! soviel Jahre, seit der Vater tot ist, lebe ich Tag und Nacht außer Hause unter freiem Himmel; nach Hause komme ich einmal im Jahre; mit keinem Menschen bin ich bekannt, habe weder Freund noch Feind. Wenn die Zeit kommt, daß ich mir einen Hausstand gründen und mich verheiraten will wie du, wie soll ich da das Haus besorgen, da ich niemand kenne und von Hausarbeit nichts verstehe. Daran habe ich gedacht und die ganze Nacht nicht geschlafen und habe mich entschlossen, dich zu bitten, daß wir mit den Arbeiten tauschen, daß ich einige Jahre zu Hause bleibe und du auf meine Arbeit gehst.«

»Sehr wohl, Bruder,« erwiderte der ältere und stellte sich, als wäre er nicht ärgerlich, »du sollst jetzt hier bleiben, und ich will auf deine Arbeit gehen, nur heute will ich noch auf die Jagd gehen, und wir wollen noch zusammen essen, morgen wollen wir dann tauschen.« Dabei wollte er platzen vor[9] Ärger, ging sein Pferd zu satteln, rief seine Frau in den Stall und sagte zu ihr: »Hör zu! Ich will heute auf die Jagd gehen und habe meinem Bruder gesagt, ich würde zum Essen kommen; aber du mußt wissen, daß ich nicht kommen werde; du aber brate ein Lamm und stecke Gift hinein, und zur Mittagszeit deckst du den Tisch und forderst den Bruder auf zu essen. Und paß auf! wenn ich zum Abendessen zurückkomme und höre dich nicht die Totenklage singen, dann ist es um dein Leben geschehen.« Das befahl er der Frau, bestieg sein Pferd, gab ihm die Sporen und fort war er mit den Jagdhunden und Jagdfalken.

Die Frau war ganz entsetzt und blieb lange Zeit wie versteinert an derselben Stelle stehen. Als sie wieder zu sich kam, dachte sie hin und her, was sie anfangen soll: soll sie sterben oder den Schwager vergiften? Endlich beschloß sie, es Gott anheimzustellen: kann sie sich retten, gut! wenn nicht, lieber sterben als ihren Schwager vergiften. Sie briet nun das Lamm, bereitete das Mittagessen, und als die Essenszeit kam, deckte sie den Tisch und nötigte ihren Schwager zum Essen; der aber antwortete: »Wie könnte das sein? Ich sollte ohne meinen Bruder essen? Er hat mir doch versprochen, daß wir zusammen essen wollen.« Die Frau wurde nun sehr betrübt, da sie sah, wie der Schwager ihren Mann, seinen Bruder, liebte, und wie dagegen ihr Mann seinen Bruder haßte – so sehr, daß sie dem Schwager um den Hals fiel, Ströme von Tränen vergoß, schluchzte und nicht sprechen konnte. Ihr Schwager war verwundert, hielt sie fest, daß sie nicht fiele, und bat sie, ihm zu sagen, warum sie weine. »Ach, Bruder,« antwortete sie, »heute ist es mit mir aus!« – »Warum, meine Liebe,« fragte er weiter, »sprichst du so?« – »Du sehnst dich nach meinem Manne und willst nicht ohne ihn essen. Und er? Er hat mir befohlen, dich zu vergiften, und geschworen, mich zu töten, wenn er von der Jagd zurückkommt und im Hause nicht Totenklage und Jammergeschrei hört.«

Als das der Schwager hörte, sagte er zu ihr: »Sei unbesorgt,[10] liebe Schwägerin, ängstige dich nicht, du wirst nicht sterben. Aber wir wollen einmal sehen, was mein Bruder tun wird, wenn er mich tot sähe; so wollen wir Leute an den Kreuzweg schicken, um aufzupassen und uns Bescheid zu sagen, wenn er sich zeigt. Wir wollen jetzt ordentlich essen, und wenn er kommt, deckst du mich mit einem Leichentuch zu, zündest am Kopfende ein Licht an und fängst an, mir die Totenklage zu halten.« Was sie so besprochen hatten, führten sie dann alles aus.

Der ältere Bruder war nun aus dem Hause fort und auf die Jagd gegangen, dahin, wo er immer zu jagen pflegte. Er mühte sich den ganzen Tag ab, aber was niemals vorgekommen war und ihn sehr verwunderte, er konnte nichts erlegen. Auf dem Rückwege sah er einen Adler hoch in den Wolken und ließ die beiden Falken los, die er bei sich hatte. Die flogen wie der Blitz in die Höhe, nahmen den Adler in die Mitte und kämpften mit ihm. Nach kurzer Zeit brachten sie ihn nach und nach zu Fall, und als er nahe genug war, daß man ihn erreichen konnte, ergriff ihn der Jäger und sagte zu ihm: »Siehst du, auch du, der du so hoch fliegst bis in die Wolken, kannst meinen Händen nicht entgehen.« – Der Adler vergoß Tränen und antwortete: »Ah! wäre mein Bruder am Leben, deine beiden Falken, ja auch zwanzig, hätten mir nichts tun können; daß doch die Hand dem verdorre, der ihn getroffen und erschlagen hat.« – »Wer hat ihn erschlagen?« fragte der Jäger. – »Ach,« antwortete der Adler, »bei Frost, Schneewetter und heftigem Sturm gerieten wir aufs Schwarze Meer, und der Sturm verschlug uns auf ein Schiff. Mein Bruder trat gerade auf ein Tau, als ein Schiffer – möge seine Hand verdorren! – ihn traf und er ins Meer fiel. Und ich, da ich ihn nicht mehr habe, bin in böser Zeit ohne Hilfe, wie jetzt, wo ich mich deiner beiden Falken nicht erwehren konnte.«

Als das der Jäger hörte, fiel ihm sein Bruder ein, und er wurde betrübt, ließ den Adler los und spornte sein Pferd, soviel er konnte. Das Pferd rannte, was es konnte, und fiel[11] aus übermäßiger Anstrengung tot hin. Da ließ er das Pferd liegen und lief zu Fuß weiter. Als er sich dem Hause näherte, sahen ihn die Diener und meldeten es. Der jüngere Bruder legte sich nun und stellte sich tot, die Schwägerin deckte ihn mit einem Leichentuch zu, zündete ein Licht an und begann die Totenklage. Als der ältere Bruder das Jammergeschrei hörte, beeilte er sich noch mehr, und sobald er ins Haus trat, zog er seinen Säbel, stürzte sich auf die Frau und wollte sie erstechen: »Ach, du elendes Weib, du hast meinen Bruder vergiftet!« Als das der Bruder hörte, sprang er auf und sprach: »Rühre meine Schwägerin nicht an! Nicht sie hat mich vergiftet, sondern du wolltest mich vergiften.« Da sagte der ältere Bruder kein Wort, fiel dem andern um den Hals und sprach: »Ach, Bruder, bist du noch am Leben, bist du wirklich noch am Leben?« bedeckte ihn mit Tränen, küßte ihn, bekannte seine Schuld und erzählte ihm alles, was sich mit dem Adler zugetragen hatte. Da brachen sie beide in Tränen aus, weinten miteinander und herzten sich. Von da an lebten sie wieder brüderlich und lagen niemals mehr in Streit.

Quelle:
Leskien, August: Balkanmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1915, S. 8-12.
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