Der geblendete Riese.

[96] Zu Dalton bei Thirst in Yorkshire steht eine Mühle, die erst vor kurzem umgebaut wurde, aber als ich vor sechs Jahren dort war, stand das alte Gebäude noch. Vor dem Hause befand sich ein länglicher Hügel, der den Namen Riesengrab führte, und in der Mühle zeigte man eine lange Eisenklinge; sie hatte einige Ähnlichkeit mit einer Sense, war aber nicht gekrümmt und wurde von den Leuten das Riesenmesser genannt.

In der Mühle lebte ein Riese, welcher menschliche Gebeine zermahlte und daraus Brot buck. Eines Tages fieng er einen Burschen aus Pillmoor, aber anstatt ihn zu zermahlen, behielt er ihn als Knecht.

Jack diente dem Riesen viele Jahre, durfte aber niemals ausgehen. Endlich ertrug er es nicht länger. Der Jahrmarkt in Topcliffe rückte heran, und der Bursche bat den Riesen um die Erlaubnis, hinzugehen. Er wollte wieder einmal die Dirnen sehen und sich etwas kaufen. Aber der Riese verweigerte ihm den Urlaub. Da beschloss Jack, sich ihn eigenmächtig zu nehmen.

Es war ein heißer Tag, und nach dem Mittagessen legte sich der Riese in der Mühle zum Schlafen nieder, einen großen Laib Knochenbrot neben sich. Das Riesenmesser hielt er in der[97] Hand, aber nur leicht, denn er schlief. Jack ergriff die Gelegenheit, nahm das Messer vorsichtig in beide Hände und stieß es dem Riesen in sein einziges Auge.

Der erwachte mit einem schrecklichen Schrei und stürzte rasch zur Thür, um so den Ausgang zu verstellen. Das war ein neues Hindernis, aber Jack half sich bald. Der Riese hatte einen Lieblingshund, der schlief gerade, als sein Herr geblendet wurde. Jack tödtete den Hund, zog ihm die Haut ab, warf sich das Fell auf den Rücken und lief bellend auf allen Vieren dem Riesen zwischen den Beinen durch.

So entkam er.

Quelle:
Kellner, Anna: Englische Märchen. Wien, Leipzig, Berlin, Stuttgart: Verlag der »Wiener Mode«, [1898], S. 96-98.
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