1. Das goldene Schloß.

Es war einmal ein König und eine Königin, die wohnten in einem Schlosse von purem Gold. Die Königin war eine Zauberin; sie hatte unter viel andern Sachen auch ein Spiegelchen; wenn der König herausging, dann schaute sie dahinein und dann konnte sie alles sehen, wohin er ging, was er that, gerade als hätte er vor ihr gestanden; zugleich hatte sie alsdann die Macht, ihn überall hingehen zu lassen, wohin sie wollte. Es geschah nun einmal, daß sie den König auf die Art hin und wieder spazieren gehen ließ, bis er endlich an das Gestade der See kam. Das erste was er da fand, war ein todter Körper, den die Wellen an's Land geworfen hatten. Als er denselben näher besah, erkannte er, daß es ein ertrunkener Matrose war. Die Kleider desselben schienen ihm so seltsam, daß er sie für sein Leben gern mitgenommen hätte; er zog sie denn auch dem Matrosen aus und sich an und ging also seines Weges weiter.

Während er dies gethan hatte, war die Königin in eine andern Zimmer gewesen; als sie nun zurückkam und in ihr Spiegelchen schaute, sah sie statt ihres Mannes einen Matrosen am Gestade; man kann sich leicht denken, wie sehr sie darüber muß erschrocken sein. Der König inzwischen war nicht minder in Unruhe, denn er [1] fürchtete, es möchte einer von den Gesellen des Matrosen kommen und ihn als einen Mörder und Dieb ergreifen. Bekümmert und ängstlich ging er hierhin und dorthin und wußte nicht was er machen sollte. Endlich kam ihm eine alte Frau entgegen und er frug diese recht freundlich: »Sagt einmal, Frauchen, wo ist eigentlich der Weg nach dem goldenen Schloß?« – »Nach dem goldenen Schloß?« frug die Frau. »Davon habe ich noch nie gehört und es kann unmöglich hier in der Gegend liegen. Man sieht's auch wohl an euren Kleidern, daß ihr hier nicht zu Hause seid. Kommet aber mit mir zur Königin der kriechenden Thiere, die kann euch vielleicht Bescheid darum geben.«

Da ging der König mit der Frau und sie kamen an das Schloß der Königin der kriechenden Thiere. Sie klopften an und ein Krötchen kam und machte die Thür auf und als der König ihr sein Verlangen zu erkennen gegeben hatte, führte es ihn vor die Königin. Diese saß auf einem prächtigen Thron und war umringt von kriechenden Thieren aller Art, als Schnecken, Schlangen, Fröschen, Eidechsen u.s.w. Nachdem der König sie freundlich gegrüßt hatte, bat er sie, ihm zu sagen, ob sie nicht wisse, wo das goldene Schloß gelegen sei? »Das goldene Schloß?« frug die Königin verwundert; »das ist mir ganz und gar unbekannt und es muß weit von hier liegen. Vielleicht weiß es einer meiner Unterthanen.« Nun pfiff sie dreimal und eine zahllose Menge von Schlangen, Schnecken und anderm Gewürm kroch von allen Seiten herzu, aber keines von all den Thieren kannte das goldene Schloß. »Es thut mir sehr leid,« sprach die Königin, »daß ich euch nicht bessern Bescheid geben kann, das macht aber nichts; ich werde euch eine Führerin geben, welche euch zu der Königin der laufenden Thiere bringen soll. Die steht einen Grad höher [2] als ich und kann es euch eher sagen, wo das goldene Schloß liegt.« Mit den Worten winkte sie einem Schlänglein und das war des Königes Geleiterin. Er bedankte sich herzlich bei der Königin und folgte dem Schlänglein.

Nachdem sie schon sehr, sehr weit gegangen waren, hielt das Schlänglein an einem Schlosse still und der König klopfte. Ein Hund machte die Thür auf, der König dankte dem Schlänglein, und wurde in das Schloß geführt und vor einen kostbaren Thron, der mit den schönsten Pelzen bekleidet war. Darauf saß die Königin der laufenden Thiere und rings um sie herum stand ihr Hof, Löwen, Bären, Tiger, Wölfe, Hirsche und allerhand ander vierfüßig Gethier. Er grüßte sie höflich und fragte sie, ob sie ihm nicht zu sagen wisse, wo das goldene Schloß gelegen sei? – »Davon habe ich nie sprechen hören,« antwortete die Königin, »vielleicht kennt es einer meiner Unterthanen.« Darauf pfiff sie dreimal und da kamen Hunde, Katzen, Hasen, Füchse, Ratten und Mäuslein und Gott weiß was all für Gethier gelaufen, auch Bären, Löwen, Kamele u.a., und die Königin fragte sie, ob sie nicht wüßten, wo das goldene Schloß liege? Alle besannen sich lange, aber sie erklärten endlich doch, sie wüßten es nicht. Darob war der König sehr betrübt, aber die Königin tröstete ihn und sagte: »Alle Hoffnung ist noch nicht verloren; ich will euch eine Geleitsfrau geben, die führt euch zur Königin der fliegenden Thiere, welche einen Grad höher steht, als ich. Wenn die es auch nicht weiß, dann kann euch Niemand auf der ganzen Welt helfen.« Damit winkte sie einem Kätzlein und gab dies dem Könige mit als Geleitsfrau. Er bedankte sich herzlich bei der Königin und folgte dem Kätzlein.

Nachdem sie schon manchen Schritt und Tritt gethan hatten, kamen sie endlich zum Schlosse der Königin [3] der fliegenden Thiere. Das Kätzlein miauzte und ein schöner weißer Schwan kam, öffnete das Thor und führte den König in das Schloß und vor die Königin. Diese saß auf einem prächtigen Thron, der mit schönen Federn von allen Farben verziert war, und eine Krone von noch schönern Federn prunkte auf ihrem Haupte. Rund um den Thron herum stand ihr Hof, den Vögel aus allen Gegenden der Welt bildeten: Adler, Pfauen, Paradiesvögel, Schwäne, Tauben und Nachtigallen, welche liebliche Weisen sangen. Der König neigte sich höflich vor ihr und sprach: »Ach, Königin, ich habe mich verirrt und weiß nicht mehr, wie ich zu dem goldnen Schlosse kommen soll.« – »Das goldne Schloß?« frug sie verwundert, »davon haben meine Thiere mir nie gesprochen und die fliegen doch durch die ganze Welt. Aber wartet, ich will sie noch einmal fragen.« Mit den Worten pfiff sie und eine Menge Vögel aller Art erfüllte den Saal. Dann frug die Königin: »Wer von euch kennet das goldne Schloß?« Aber keiner von all den Vögeln antwortete. Nun pfiff sie zum zweitenmale und eine noch viel größere Zahl von Vögeln kam herbeigeflogen, aber auch von diesen kannte keiner das goldne Schloß. Da pfiff sie zum drittenmale und die fremdartigsten Vögel der Welt versammelten sich um sie. Dreimal frug sie dieselben: »Wer von euch kennet das goldene Schloß?« aber alle schwiegen still und sahen einander verwundert an, denn davon hatten sie nie etwas gehört. Der arme König meinte zu verzweifeln. Da sah einer von den Vögeln ganz, ganz weit in der Luft ein Pünktchen, welches immer näher kam und immer größer wurde und als es endlich ganz nahe war, sah man, daß es ein Storch war. Die Königin wurde böse, daß er nicht gleich auf ihren Ruf gekommen war, und frug ihn: »Wo bist du denn so lange geblieben?« Der [4] Storch antwortete: »Das müsset ihr mir nicht übel nehmen, ich komme von so ferne. Ich saß auf dem goldenen Schlosse, als ihr das erstemal pfiffet.« Da hüpfte dem Könige das Herz im Leibe vor lauter Freuden und er bedankte sich mit viel schönen Worten bei der Königin. Diese gab ihm den Storch als Geleitsmann mit, er setzte sich rittlings auf ihn und flog also durch die Luft dahin, so hoch, daß ihm die allergrößten Städte der Welt nur wie Ameisennester erschienen. Nicht weit vom goldnen Schlosse endlich senkte der Storch sich immer mehr und mehr und ließ sich endlich an demselben nieder.

Man kann sich leicht denken, was die Königin für Freude hatte, als sie den König wieder sah, nachdem sie ihn seit so langer Zeit für todt gehalten hatte, und der König war nicht weniger froh, endlich wieder zu Hause und bei seiner lieben Frau zu sein. Nachdem sie sich nun recht satt geküßt und geweint hatten, sprach der König zu dem Storche: »Wir danken dir hunderttausendmal, liebster Storch, daß du mich hierhingebracht hast. Sage uns nun, wie wir dir das vergelten können. Alles was du verlangst, will ich dir geben.« Der Storch antwortete: »Ich verlange nichts anderes, als deinen erstgeborenen Sohn; den hole ich mir nach Verlauf von sieben Jahren;« und als er das gesagt hatte, verschwand er. Da stand nun der König und sah die Königin stumm und steif an; denn obgleich sie noch kein Kind hatten, konnten sie doch binnen sieben Jahren noch eins kriegen.

Und also geschah es auch; es war noch kein Jahr verlaufen, als die Königin schon einen Sohn gebar, ein über die Maßen schönes Kind. Je älter es wurde, um so mehr nahm es an Schönheit und an Klugheit zu, doch hatte der König und die Königin wenig Freude [5] darob, denn sie dachten immer nur an das siebente Jahr und an den Storch.

Endlich kam das siebente Jahr und im ganzen Schloß war Trauer; doch ließ der König alles wohl und schön zurichten, um den Storch auf eine geziemende Weise zu empfangen. Kaum hatten sie alles bereit, als der Storch angeflogen kam. Mit Thränen in den Augen führten der König und die Königin ihr Söhnlein zu ihm und baten ihn nur, daß er es doch nicht todt machen möchte. Als der Storch das sah, schlug er freudig mit den Flügeln und klapperte ihnen zu: »Behaltet euer Söhnlein nur, die Königin der fliegenden Thiere ist zufrieden gestellt dadurch, daß ihr euer Wort so treu habet wollen halten.« Was da für ein Gejubel in dem Schlosse war, das kann man mit keiner Feder beschreiben. Der König ließ ein großes Gastmahl anrichten, wo der Storch mit am Tische saß und vor sich eine große Schüssel mit den schönsten und fettesten Fröschen stehen hatte, die man nur finden konnte. Nach dem Gastmahl tanzte man und der Storch tanzte zuerst mit der Königin, blieb auch noch verschiedene Tage in dem Schlosse; dann aber nahm er eines Morgens vom Könige Abschied und flog weg.

Der König und die Königin und ihr Söhnlein aber lebten von da ab in Glück und Freude und wenn das goldene Schloß nicht zusammengefallen ist, dann steht es noch. – Wo denn? – Das mußt du den Storch fragen.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Deutsche Märchen und Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1845, S. 1-6.
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