58. Touéno-Bouéno

[170] Einst lebte zu Croque-Pou eine arme, alte Wittwe, die mit ihrem Sohn eine elende Hütte bewohnte. Der Sohn hiess Anton (Touéno), war fünfzehn Jahre alt und ging wie ein Schaf mit gesenktem Kopf durch die Strassen. Er sprach nie etwas und war gar nicht einnehmend. Die Bewohnerinnen des Ortes hiessen ihn Touéno-Bouéno und seine Mutter sagte oft zu ihm: »Wie dumm du doch bist, armer Junge!« – Und lachend fügte sie hinzu: »Nie wirst du in deinem Leben den Wolf beim Schwanz erwischen!«


* * *


Eines Tages war er im Wald, um abgefallenes Laub aufzulesen. Es begann zu regnen. Um sich zu schützen, kauerte er sich in einen hohlen Baum und blieb dort lange. Anstatt aufzuhören, regnete es aber lustig weiter. Anton fühlte, wie ihn langsam der Schlaf übermannte. Er war schon eingenickt, als ihn ein Geräusch, das dem Scharren eines Hundes an einer Türe glich, jäh aufweckte. Als er den Kopf erhob, sah er ein behaartes Tier vor sich, das mit dem Schwanz zuerst sachte in die Höhle herein kam.

»Das ist der Wolf«, dachte sich der Junge. – Es war in der Tat der Wolf, der wie Anton vor dem Unwetter in dem hohlen Stamm Schutz suchte. – Immer weiter schob er[170] sich herein. Da kam dem Jungen plötzlich ein Gedanke. Er hatte sagen gehört, dass der Wolf nicht den Kopf wenden könne, um hinter sich zu sehen. Rasch ergriff er das Tier beim Schwanz und zog es an sich.

Teils freiwillig, teils gezwungen folgte der Wolf Anton, der ihn am Schwanze zog, nach Hause. – »Mutter, du hast mir oft gesagt, dass ich so dumm bin, dass ich nicht einmal den Wolf heim Schwanz erwische. Sieh aber jetzt her!« – »Nun«, rief die Mutter, »da du ihn schon hast, so wollen wir auch Nutzen daraus ziehen. Dort hängt die Haut eines Widders, der erst vorige Woche starb. Wir nähen den Wolf in die Haut ein, dadurch sieht er einem frommen Widder gleich und führen ihn morgen auf den Markt.«

Gesagt, getan. Am nächsten Tag führte Touéno-Bouéno seinen Wolf auf einen Markt in der Umgebung und jedermann bewunderte dort den ebenso hübschen als munteren Widder. Drei Brüder kauften ihn, da sie ein schönes Sprungtier haben wollten. Die Nacht über verbrachte der Wolf bei den Schafen des älteren Bruders. Was da geschah, kann man leicht erraten. Der Wolf erwürgte die ganze Herde.

Als der älteste Bruder am Morgen seinen Schafstall öffnete, sah er die Bescherung. Aber er verschwieg es seinen Brüdern. Den nächsten Abend verbrachte daher der Wolf im Schafstall des Jüngeren und stellte dort dasselbe Unheil an. Doch hütete sich auch dieser, etwas zu sagen und führte umbarmherzig den Wolf zum Jüngsten, wo das Tier dieselbe Verheerung anrichtete. So hatte der Wolf während dreier Nächte die Schafherden der drei Brüder, die darüber wütend waren, vernichtet. Was sollten sie tun? Sie kamen überein, den Wolf wieder Touéno-Bouéno zurückzustellen und letzteren überdies eine tüchtige Tracht Prügel zu verabreichen.


* * *


Anton, der am Zwetschkenbaum sass, dessen Früchte er pflückte, sah die Käufer des Wolfes nahen und lief zur Mutter. – »Mutter«, rief er, »um uns aus dieser Sache herauszuziehen, habe ich einen Einfall. Lege dich rasch auf die Erde und stelle dich tot.«

Als die drei, mit festen Knütteln bewaffneten Brüder in die Hütte eintraten, bot sich ihnen ein sonderbares Bild dar. Auf dem Fussboden lag eine Frau ausgestreckt und Anton[171] blies ihr mit einer Pfeife aus allen Kräften in die Ohren. – »Was treibst du da, verfluchter Kerl?« frug der Älteste der Brüder. – »Ihr wollt wissen, was ich mache? Ach, liebe Freunde, ich bin tief unglücklich! Meine Mutter, meine gute und zärtliche Mutter ist gestorben. Was soll nun aus mir werden!« – »Warum pfeifst du ihr in die Ohren?« – »Weil diese Pfeife die Kraft hat, Tote zu erwecken.« Die drei Brüder rissen die Augen mächtig auf. – »Gott sei Dank,« schrie Anton, »sie beginnt sich zu regen.« – In der Tat begann die Tote die Lippen, die Finger und die Füsse zu bewegen, schliesslich öffnete sie sogar die Augen ein wenig. Anton blies nun stärker und sie kehrte vollständig ins Leben zurück.

Der Zorn der drei Brüder hatte sich in Staunen verwandelt. Der Älteste sprach zu Touéno-Bouéno: »Höre, du bist ein Elender, denn du hast uns einen Wolf verkauft, der unsere Schafe verschlang; wir könnten dich dafür fest durchprügeln, aber wenn du uns diese Pfeife überläset, so soll dir nichts geschehen.« – »Ihr verlangt viel«, antwortete Anton, »aber um euch gefällig zu sein, sollt ihr die Pfeife haben.«


* * *


Fröhlich zogen die drei Brüder mit ihrer Pfeife heim. Am Wege sprachen sie: »Unsere Frauen sind bösartig, schwatzhaft und unerträglich; um ihnen eine Lehre zu geben, werden wir sie töten, aber dann mit Hilfe dieser Pfeife wieder ins Leben rufen.«

Sie töteten ihre besseren Hälften mit der Hacke, doch gelang es ihnen, trotzdem sie wie verzweifelt in Antons Pfeife bliesen, nicht, sie wieder lebend zu machen.

Man kann sich den Zorn und die Verzweiflung der drei Brüder leicht vorstellen. Nachdem sie vom pfeifen müde waren, erkannten sie, dass sich der Galgenstrick über sie lustig gemacht hatte. Sie eilten zu ihm, richteten ihn übel zu und steckten ihn in einen Sack, den sie sich aufluden. Den Spitzbuben wollten sie ertränken.

Der Fluss war jedoch weit weg. Ubrigens herrschte eine drückende Hitze und Anton wog mehr als ein Sester Getreide, sodass sich ihrer der Durst bemächtigte. Da sie eine Schenke bemerkten, traten sie ein, um sich zu erfrischen. Den Sack lehnten sie vor der Türe an eine Steinbank, auf der ein Bettler sass. Dieser hörte das Jammern des TouénoBouéno,[172] näherte sich dem Sack und kam zur Überzeugung, dass ein Mensch darinnen sei. – »Warum hat man dich denn da hinein getan?« – »Weil man mich zu einem Bischof machen wollte, wogegen ich mich aber mit Händen und Füssen stemmte.« – »Zum Teufel,« schrie der Bettler, »ein Bischof zu sein, ist doch kein schlechtes Geschäft.« – »Das schon,« entgegnete der schlaue Spitzbube, »aber meine Natur ist dagegen. Wenn du die Mitra erhalten könntest, würdest du mich rasch aus dem Sack befreien und an meine Stelle treten?« – »O ja, sehr gerne.«

Touéno-Bouéno verliess den Sack und schloss den Bettler ein. Dieser wurde dann von den drei Brüdern ins Wasser geworfen.


* * *


Am nächsten Tag fand die Beerdigung der drei getöteten Frauen statt. Als die drei Brüder vom Friedhof zurückkehrten, begegneten sie Touéno-Bouéno, der eine prachtvolle Schafherde trieb. Sie wollten ihren Augen nicht trauen. – »Wie, haben wir dich, du Galgenstrick, nicht gestern ertränkt und heute begegnen wir dich wieder,« riefen sie erstaunt. – »Nicht wahr, das wundert euch! Ihr wisst wohl nicht, dass unter unserer Welt noch eine schönere und reichere ist? Ihr habt mich, als ihr mich ins Wasser geworfen habt, in diese Welt, wo alle Tage Markt ist, geschickt. Ich fiel gerade auf den Schafmarkt und habe mir, wie ihr seht, meinen Teil mitgenommen. Aber ihr seid ungeschickt gewesen. Wenn ihr mich auf den Pferdemarkt geworfen hättet, so hätte ich mein Glück gemacht.« – »Weisst du auch genau, wo der Pferdemarkt ist?« – »Na, ob ich ihn weiss. Habe ich ihn doch gesehen!« – »Wenn du nicht willst, dass wir unsere Frauen und unsere Schafe an dir rächen, so wirfst du uns genau oberhalb des Pferdemarkts ins Wasser.«

Touéno-Bouéno schloss jeden der drei in einen Sack ein und warf sie ins Wasser. Heute sind sie noch dort und niemand weiss, auf welchen Markt sie fielen.


(Auvergne.)

Quelle:
Blümml, Emil Karl: Schnurren und Schwänke des französischen Bauernvolkes. Leipzig: Deutsche Verlagsaktiengesellschaft, 1906, S. 170-173.
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