Die Kultur des Abendlandes, welche heute rettungslos und müde wie ein welker Greis zu Grabe sinkt, erinnert sich gern ihrer Kindheitstage, die goldumstrahlt wie die Gletscher bei Sonnenuntergang in das hereinbrechende Dunkel herüberleuchten. Die Völker des Abendlandes hatten eine wilde Knabenzeit: rauflustig und grausam, wie Knaben einmal sind, traten sie auf das Welttheater und erledigten mit ein paar Faustschlägen die hohl und faul gewordene Antike. Der Zweck des Lebens war der Heldensang vom lächelnd ertragenen Tod, und jenseits des blutigen Walstattdunstes leuchtete der Nachruhm. Diese wilden Burschen hörten nicht gern auf die Märchen, welche als Schöpfungen abendlicher Abspannung und Ruhe eine gleichmäßige Heiterkeit, eine gewisse Müdigkeit der Seele und eine unbestimmte Tatenlosigkeit voraussetzen. Und dennoch kannten auch die alten Germanen eine beträchtliche Anzahl jener Motive, die, aus den Anschauungen und Gebräuchen der Urzeit geboren, sich je nach der Art der Komposition und Bindung in örtlicher und zeitlicher Hinsicht zu Mythus, Sage oder Märchen zusammenschlossen. Ja, wir können aus den geringen Resten altgermanischer Epik, die uns ein gütiges Geschick erhalten hat, auf das Bestehen bereits fertiger Märchen im germanischen Altertum schließen. Es waren dies solche Märchen, die der Abenteuerlust und dem Tatendrang der Zeit entgegenkamen, wie das vom Bärensohn, der in die Unterwelt dringt und dort eine Jungfrau von einem hütenden Drachen befreit; weiterhin solche, die ihren Stoff aus dem Alltagsleben dieser wilden Jahrhunderte nahmen: die von herrschsüchtigen Frauen und treulosen Ratgebern erzählten, wie jenes von der unschuldig verklagten und gerichteten Königin, deren Unschuld sich dann doch offenbart, von der Braut, die einer falschen weichen mußte und dann doch wieder zu ihren Rechten kommt, von der trotzigen Jungfrau, die dann doch[1] bezwungen wird. Die goldene Ferne lockte, und diese wilden Knaben traten aus dem Nebel ihrer Urwälder heraus, überschritten den Rhein und wandten sich zu den rebenumsäumten Hügeln der Marne und Oise, das Reich des Syagrius brach zusammen, und der germanische Bauernkönig residierte in Soissons. Doch wurden die Unterworfenen milde behandelt, und so kam es, daß jede Neigung zu nationalen Gegensätzen im Keime erstickt wurde. Frankreich wurde der Brennpunkt dieser jungen Kultur. Hier kreuzten sich Einflüsse der verschiedensten Art: die Sagen und Märchen der Antike lebten in den Trümmern der Römerstädte fort, die keltische Urbevölkerung bewahrte ihre Erzählungsstoffe, welche, im ewigen Nebel der Sümpfe und des Nordseegestades erwachsen, die gigantischen und grotesken Formen eines Nebelbildes zeigen und zugleich die leise Wehmut und dann wieder die ausgelassene Lustigkeit des keltischen Stammes mitbringen. Die noch heute in Frankreich fortlebenden Geschichten von Midas, von Polyphem und von Perseus und Andromeda, von den Sirenen und vom Orkus weisen auf die Antike, während die keltische Feenwelt weit über Frankreichs Grenzen hinausgedrungen ist. Zu dieser Doppelheit kamen als dritter Faktor die erobernden Franken, welche, als Träger der neuen Kultur berufen, die Dämonen und die Sagen der endlosen Wälder ihrer Heimat mit in das sonnige Frankreich brachten. Diese drei Bestandteile mischten sich zu jenem stark individuell ausgeprägten Gesamtbild, das im mittelalterlichen Frankreich der literarischen Kultur Europas ihre Eigenart verlieh. Auf neufränkischem Boden entstand wahrscheinlich zur Völkerwanderungszeit die Wielandsage, die auf eine Erzählung aus dem weitverbreiteten Kreis von der gestörten Mahrtenehe zurückgeht, vielleicht auch die Siegfriedsage, welche mit Erinnerungen aus der fränkischen Geschichte die Umrisse des Bärensohnmärchens verband. Auf fränkische Entstehung weist das berühmte Märchen vom Machandelboom, das, einer Episode der Wielandsage nahe verwandt, jene blutige Zeit am besten widerspiegelt. Auch der Verschlingungsmythos[2] von Rotkäppchen hat in Frankreich Züge bewahrt, die in ihrem Kannibalismus weit über tausend Jahre über die klassische Erzählung Perraults zurückgehen; vielleicht darf man auch das Märchen vom singenden Knochen der fränkischen Völkerwanderungszeit zurechnen.
Aus den Knabenjahren der Völkerwanderung traten die Bewohner Frankreichs, umhüllt vom schützenden Mantel der Mutter Kirche, in das Mittelalter, die Jünglingszeit unserer Kulturepoche. Gewiß, das Mittelalter hatte seine dunkeln Schatten, aber heute, da wir auf diese Zeit mit der Wehmut des Todgeweihten zurückblicken, haben wir das Recht, nur noch das Licht zu sehen, und wir trinken es mit vollen Zügen, ehe wir den Becher ins Meer werfen. Es war die Zeit der ersten Liebe. Wie Nachtigallenruf in Sommernächten dringt das Lied der Troubadours in unsere Maschinenzeit herüber, auch das Gebiet des Religiösen nahm der Minnesang in Anspruch, die Mystik redete die Sprache der weltlichen Liebe: irdische und himmlische Liebe wurden eins. Es war die Zeit der hohen und stolzen Frauen, die mit großen blauen Augen von den Zinnen ihrer Burgen nach ihren fernen Geliebten Ausschau hielten, die mit langen, wehenden Schleiern winkten, und, wenn sie durch die Felder gingen, beugten sich die Margueriten und Schlüsselblumen vor ihnen. Es war die Zeit, da das ferne Wunderland des Ostens lockte und da hinter Arabiens Wüstensand das irdische Paradies, das reiche Indien, auftauchte. Das Märchen wurde zum Leben und das Leben zum Märchen. Das Märchen nimmt die Farben der Zeit an: das weitaus beliebteste Märchen des Mittelalters war das vom Goldener, jenem Helden, der in Verachtung und Niedrigkeit aufwächst und dann als Ritter auf weißem Roß in strahlender Rüstung in dreitägigem Turnier die Hand der Königstochter erringt. Die Dichtungen von Aiol, von Elie de St. Gilles, Beuve de Hamtoune, Gautier d'Aupais, Mainet, Jourdain de Blaivies und Robert dem Teufel reden von der Beliebtheit dieses Stoffes, dessen Ursprung uns noch unbekannt ist. Daneben finden wir im altfranzösischen Heldenepos[3] jene Stoffe wieder, die wir für germanisch hielten. Das Märchen von der unschuldig leidenden Königin fand in England noch während der Völkerwanderungszeit einen literarischen Niederschlag in den Sagen von Offa und Aella. Die Normannen, die so vielfach als Vermittler germanischer und romanischer Kultur eine Rolle gespielt haben, verpflanzten das Märchen nach Frankreich: es begegnet zuerst in der Chronik des Anglonormannen Trivet, später in der »Manekine« des Philipp von Beaumanoir und im Volksbuch von der schönen Helene. Nahe verwandt sind ihm die Crescentialegende und die Erzählung von der Gattin Karls des Großen. Ein anderer Zweig des gleichen Märchenstammes war berufen, nach Aufnahme eines keltischen Reises die Vorgeschichte des Lohengrinepos zu bilden. Die untergeschobene Braut begegnet in der Berthasage, welche, vielleicht deutscher Herkunft, von einem Spielmann Adenet le roi mannigfach umgebildet, in französische Verse gebracht wurde. Das Bärensohnmärchen scheint die Grundlage der Chanson de geste von Huon von Bordeaux zu sein, und der Drosselbarttypus erscheint in der verlorenen französischen Quelle der skandinavischen Clarussaga. Wenn germanische Märchen in der Hauptsache Verwendung in den Chanson de geste fanden, so beruht die um ein Jahrhundert später einsetzende höfische Epik im wesentlichen auf keltisch-bretonischer Grundlage. Doch steht der ritterliche Dichter dem Märchen schon nicht mehr so naiv gegenüber wie der jougleor. Chrétien von Troyes, der bedeutendste Vertreter höfischer Dichtungsart, bietet in der Hauptsache Gedankendichtung, ihm schwebte zuerst der Leitgedanke vor, zu dessen Illustration er seinen Stoff zurechtmachte. Zusammenhängende Märchen bieten diese Epen nicht, nur Motive und Formeln, und diese stammen weniger aus dem Volksmärchen, als vielmehr aus der keltischen Heldensage. Besonders die Cuchullinsage ist es, die, wie besonders Brown und Ehrismann nachgewiesen haben, auf die Romane aus dem Kreis der »matière de Bretagne« eingewirkt hat. Zwei Hauptmotive sind den meisten Artusepen[4] gemeinsam: eine Fee lockt den Helden zu sich, entweder um seine Liebe zu genießen oder um seine Unterstützung gegen äußere Feinde zu erlangen: das eine ist der reine Stoff der gestörten Mahrtenehe, das andere dessen heldensagenmäßige Umformung. Hierher gehört Laudine im Iwein. Das zweite Motiv zeigt den Helden auf seinem Weg in die Unterwelt, wo er im Kampf mit einem dämonischen Wächter eine Jungfrau befreit: das ist der Stoff des Bärensohnmärchens. So befreit Lanzelot die Ginover, Gawain die gefangenen Frauen aus dem Chastel marveil. Im Tristan begegnet der Märchenzug von der goldhaarigen Jungfrau, der Parcival zeigt Anklänge an Märchen von der Unterweltsfahrt eines Dummlings, während die Graalsage wahrscheinlich auf das Märchen von der unablässig mahlenden Wunschmühle zurückgeht. Die Kundryepisode gehört zu einem keltischen Märchenkreis, der von Maynadier bis auf Chaucer herab verfolgt wurde, und die Lehren des Gurnemanz sind denen des sterbenden Vaters in dem von uns wiedergegebenen bretonischen Märchen verwandt. Auch der Erek und der Cligés zeigen Züge von Märchen.
Mehr noch als in den Artusepen tritt die Reinheit des Märchens in den Lais zutage, jenen kurzen Verserzählungen, die Marie de France so meisterhaft in französische Zunge brachte. Unter den Stoffen dieser bretonischen Gedichte tritt besonders der von der gestörten Mahrtenehe hervor, von der ehelichen Gemeinschaft eines Menschen mit einem elbischen Wesen, die durch die Übertretung eines vom letzteren gestellten Verbotes zu einem vorzeitigen Abschluß gebracht wird. Hierher gehören die Novellen von Lanval, Yonec, Graelent, Guingamor, vom bel desconnu und von Sir Dégarré, während der lai du fraisne zum Typus von der untergeschobenen Braut stimmt und der Lai von Eliduc das bekannte Motiv vom Schlangenkraut enthält. Selbst die Troubadours sind für den Märchenforscher nicht ohne Bedeutung: Wilhelm von Poitiers überliefert zuerst den Schwankstoff vom verstellten Narren.[5]
Neben germanischen und keltischen Märchen wurden für die Literatur des Mittelalters die durch die Kreuzzüge vermittelten orientalischen besonders wichtig. Hier spielte die byzantinische Kultur die Vermittlerrolle. Spätgriechischer Dichtung verdankt die im Mittelalter so verbreitete Erzählung von einem Liebespaar, das sich nach langer Trennung und endlosen Gefahren endlich doch wiederfindet, seine Entstehung, jene Geschichte, die uns in Aucassin und Nicolette, dann aber auch in Flore und Blancheflor, in Magelone und, legendenhaft umgebogen, im Wilhelm von England Chrétiens entgegentritt. Zum byzantinischen Amicus- und Ameliusstoff stimmt der Schluß des Märchens vom getreuen Johannes, dessen Eingang zu den Brautwerbungssagen aus dem jüdisch-byzantinischen Salomokreise gehört: hier dürfte Entstehung des Märchens aus der Literatur vorliegen. Der Parthonopier des Denis Pyramus, dessen Ausdehnung in der Weltliteratur der der »matière de Bretagne« kaum nachsteht, ist der milesischen Fabel von Amor und Psyche nahe verwandt. Das Märchen vom Meisterdieb, das sich bis zu Herodot hinauf verfolgen läßt, hatte im Mittelalter eine große Verbreitung und entsprach zumal dem französischen Geschmack, der aus den germanischen diebischen Zwergen die mannigfach nuancierte Klasse der »Larrons« schuf, jener kleinen und behenden Spitzbuben, deren Prototyp der Maugis d'Aigremont ist. Dieses Märchen zieht sich in vielfachen Abarten durch die gesamte Literatur des Mittelalters: die bekannteste Version ist die im Mittelniederländischen bewahrte, aber auf französische Quelle zurückgehende von Karl und Elegast, der Pferdediebstahl des Meisterdiebes begegnet im Elie de St. Gilles und fast gleichzeitig beim Engländer Walter Map, der verwandte Scherz vom nüsseknackenden Dieb auf dem Kirchhof bildet die Grundlage des Fabliaus Estula, während das Fabliau von Barat und Haimet die Streiche der Gauner in lustigster Verwirrung beschreibt. Nahe zum Meisterdiebstoff gehört endlich das Fabliau von Trubert, dessen Stoff in modernen französischen[6] Sammlungen noch mehrfach begegnet. Das orientalische Märchen vom goldenen Vogel liegt der verlorenen Quelle des mittelniederländischen Walewijnromans zugrunde.
Aber von weiter her noch als von den Ufern des Bosporus und von den Schlössern der Kalifen strömte der Märchenstrom herein: das ferne Indien öffnete die Tore seiner unergründlichen Schatzkammern und überschwemmte das Abendland und namentlich Frankreich mit seinen Stoffen, die bald in märchenhafter Pracht schwelgen und in wilder Häufung des Phantastischen die Wunder einander übertreffen und übertrumpfen lassen, bald mit bitterer Ironie die menschlichen Schwächen und mit Vorliebe die Unbeständigkeit der Weiber geißeln. Freilich läßt sich nur eine ganz geringe Anzahl der sogenannten Fabliaux, jener kurzen Reimschwänke, die das Dreieck: Gatte – Frau – Liebhaber von allen erdenklichen Seiten beleuchten (wodurch dann allerdings oft Dinge ans Licht kommen, die besser verborgen geblieben wären) – nur eine kleine Anzahl dieser Stoffe läßt sich in denjenigen orientalischen Sammlungen, die dem Mittelalter bekannt waren – der disciplina clericalis, dem Dolopathos, dem directorium humanae vitae und dem Barlaam und Josaphat – nachweisen; viele dieser Kleinigkeiten sind gewiß auch in Europa und speziell in Frankreich selbst entstanden. Diese Reimschwänke, deren Verfasser, die übrigens nur in den seltensten Fällen mit ihren Namen hervortreten, aus dem Stand der fahrenden Kleriker und der Berufsspielleute stammen, sind nicht nur wegen der Verbreitung ihrer Stoffe wichtig, sondern sie sind auch eine Fundgrube für den Kulturhistoriker. Sie lehren uns, worüber das Frankreich des 13. Jahrhunderts gelacht hat. »Bald leichtsinnig und derb, bald feinsinnig und bald zynisch, über allzu unbedeutenden Anlaß lachend, immer spöttisch, selten satirisch, so ist das Fablel ein wichtiger Zeuge für die niederen Triebe der galloromanischen Rasse.« So definiert Bédier, der bedeutendste Erforscher dieser Gattung, die Fabliaux. Die Schwänke des Mittelalters lebten nicht nur in Prosa aufgelöst[7] in den unzähligen Schwanksammlungen der späteren Jahrhunderte fort, sondern sie werden auch noch in der Gegenwart mit Behagen erzählt.
Nicht nur in Versform, auch in Prosa fanden diese leichten Stoffe Eingang in die Literatur des Mittelalters, hier besonders in Form der Predigtmärlein. Die Illustration moralischer Lehren durch Geschichten novellenhafter Art geht in ihrem Gebrauch schon auf den Stifter des Christentums zurück. Die Homilien Gregors des Großen machen zuerst ausgiebigen Gebrauch von diesen Erzählungen, die auf einen populären Hörerkreis zugeschnitten sind. Ein wichtiges Erziehungsmittel werden sie in den Händen der Franziskaner und Dominikaner, der eigentlichen ordines praedicatorum. Diesem Orden gehörte der große französische Prediger Etienne von Bourbon an, der in seinem »liber de septum donis spiritus sancti« ein Kompendium dieser Exempla für den Gebrauch der Prediger gab, in den meisten Fällen abhängig von seinem großen Vorgänger Jakob von Vitry, welcher über 200 Fabeln, Schwänke und Anekdoten in seine »Sermones vulgares« einschob. Eine weitere Sammlung von Exemplis mit Nutzanwendungen in anglonormannischer Sprache gab im 14. Jahrhundert der englische Franziskaner Nikolaus Bozon. Weiterhin wäre die »Summa virtutum ac vitium« des Wilhelm Peraldus und die »Fleurs des commandemens de Dieu« zu erwähnen. Das »Speculum exemplorum«, das wahrscheinlich in Belgien entstand, wurde noch im 17. Jahrhundert von einem Jesuiten aus Douai, Johannes Major, bearbeitet. Zu diesen Sammlungen gehört auch das berühmteste Märchenbuch des Mittelalters, die Gesta Romanorum, dessen Ursprungsland nach den neuesten Forschungen das von französischem Einflusse abhängige England ist. Aus dem 14. Jahrhundert ragt die Sammlung »Scala caeli« hervor, die den Dominikanermönch Johann Junior Gobii aus Alais in Südfrankreich zum Verfasser hat. Die »Scala caeli« wird besonders dadurch wichtig, daß sie zum ersten Male auch eigentliche Zaubermärchen für[8] Predigtzwecke verwertet. Das Märchen vom dankbaren Toten, das wir aus diesem Werk bringen, begegnet übrigens auch in einer Reihe von epischen Werken des französischen Mittelalters: dem Hervis de Metz, dem Richars li biaus und dem Lion de Bourges.
Wir dürfen den Boden des Mittelalters nicht verlassen, ohne auch des Tiermärchens zu gedenken, das im französischen »Roman de Renart« seine klassische Verwertung fand. Die Quellen des mittelalterlichen Tierepos sind mannigfacher Art, nicht nur die antike Fabel und das indische Pantschatandra, sondern auch die nordgermanischen und finnischen Völker, die den Bären in den Mittelpunkt einer Tierfabelkette stellten, tragen das ihrige zur Ausbildung dieser Dichtgattung bei.
Der Hochblüte mittelalterlicher Dichtkunst, die in Frankreich in die letzten Jahrzehnte des 12. und den Beginn des 13. Jahrhunderts fällt, folgte eine Erschlaffung, die auf unserem Gebiet durch das Zurücktreten der Zaubermärchen und das Überhandnehmen der Schwankstoffe charakterisiert wird: im 14. und 15. Jahrhundert wurde in Italien die Novelle geboren, und sie drang alsbald nach Frankreich: noch dem 15. Jahrhundert gehört die Sammlung der »cent nouvelles nouvelles« an. Das 15. Jahrhundert ist bemerkenswert durch die Prosaauflösung der alten Versepen, die nunmehr durch Aufnahme märchenhafter Wanderstoffe im prosaischen Gewande anschwellen. Der »Perceforest«, dem im übrigen kein Versroman zugrunde liegt, bietet uns die älteste Version des Dornröschenmärchens, der »Zauberer Virgilius« nahm das orientalische Märchen vom Geist in der Flasche auf, und der »Ogier« bereicherte sich um ein Mahrtenehemärchen.
Gleichzeitig mit dem Prosaroman blühte das Drama, das neben der heiligen Geschichte (in den Mystères) auch Stoffe schwank- und märchenhafter Art in den Farcen und Moralitäten pflegte. So begegnet in einer Farce des Eustache Deschamps († 1415) jener schlaue Betrüger Trubert wieder,[9] der uns oben in Zusammenhang mit dem Meisterdiebmärchen beschäftigte.
Das 16. Jahrhundert zeigt die Völker des Abendlandes in der Blüte ihrer ersten Mannesjahre: es war eine Zeit, die sich stürmisch von liebgewordenen Jugendträumen losriß, die wild von Tat zu Tat eilte, in der jeder Tag einen Markstein in der Geschichte bedeutet. Das christliche Jenseitsideal konnte dem immer reicher werdenden Erdenleben nicht mehr Genüge tun, das Jahrhundert wandte seinen Sinn auf das Irdische, ein Bestreben, das es der Antike näher führte, die nun ihre glänzende Auferstehung feierte. Aber neben antiker Formenpracht, neben religiöser Erneuerung lebte die gotische Barbarei fort. Es war ein Jahrhundert der Gegensätze. Während de Baïf die »Elektra« übersetzte, während Calvin seine »Institutiones« schrieb, versammelte sich der französische Hof in Lyon und betrachtete mit Stielgläsern, wie Montecucculi, der des Giftmordes am Dauphin bezichtigt war, von vier Pferden auseinandergerissen wurde, und die Höflinge schlossen Wetten ab, welches Glied der Gewalt der aufgepeitschten Rosse am längsten Widerstand leisten würde. Nur Margaretha von Angoulême, die feinfühlige Dichterin, verbarg ihr Haupt an der Schulter ihres königlichen Bruders. Die Hinwendung zum Realen und die Ausbildung des Individuellen konnte dem Märchen keinen Vorschub leisten: das 16. Jahrhundert setzte die Entwicklung vom Zaubermärchen zum Schwank in verschärftem Tempo fort: die ungestüme Lebenskraft der Zeit äußert sich im Schwank und in der derben Faschingsposse, man nimmt das Menschliche menschlich. Es ist das Jahrhundert des François Rabelais. Sein »Gargantua« (1532) ist nichts anderes als eine gigantische Verzerrung des Märchens vom starken Hans, ein Märchentypus, der auf die Jugendgeschichte des germanischen Siegfried sowohl wie des finnischen Kullervo eingewirkt hatte, der aber in Frankreich durch die Tätigkeit der Spielleute, die im Rainouart des Karlszyklus ein Vorbild des Rabelaisschen Helden schufen, und nicht ohne Einwirkung des keltischen[10] Hanges zur Groteske jene Form erreichte, die das Märchen noch heute im Volksmund festhält: eine Vergröberung und Verspottung des altgermanischen Riesentypus.
Neben Rabelais verschwinden die Autoren von Schwanksammlungen, die dem von den Fabliaux und der italienischen Novelle gewiesenen Wege folgten. 1521 wurden die Gesta Romanorum unter dem Titel »Violier des histoires romaines« durch Jehan de la Garde in Paris gedruckt. 1535 eröffnete Philipp von Vigneuilles mit seinem noch ungedruckten »Recueil« den Reigen der Nachahmer Boccaccios, Poggios, Sacchettis und Masuccios, kurz darauf folgt Nicolaus v. Troyes »Parangon« (1535) und Bonaventura Desperiers mit seinen »Joyeus devis«. Der große Nachahmer Lucians, der seinen Kampf gegen das Christentum 1544 freiwillig beendete, um den Verfolgungen der Inquisition zu entgehen, schenkte der Mitwelt hier das Kind seiner heitereren Muse. Freilich sind drei Viertel der Sammlung eigene Erfindung. Henri Estienne, der Hugenott und Hellenist, mischte in seine gegen den Katholizismus gerichtete »Apologie pour Hérodote« (1566) viele Schwankstoffe, Noel du Fail erwähnt in seinen »Contes d'Eutrapel« (1565) und in seinen »Propos rustiques« eine große Anzahl von Märchen, während Margarethe von Navarra in ihrer Boccaccionachahmung (Heptameron 1559) die ernsten Stoffe bevorzugte. Sie brachte den Ernst, die Tragik und das Mitleid in die Novelle. Verville mit seinem »Moyen de parvenir« und die »Élite des contes« des Seigneur d'Ouville – um nur die bekanntesten Namen zu nennen – gehören schon dem folgenden Jahrhundert an.
Mit Riesenschritten eilte die französische Kultur ihrem Kulminationspunkte zu. Der Hof Ludwigs XIV. wurde der Sammelplatz der Künste und Wissenschaften der Welt. In goldbestuckten Spiegelsälen beugten sich betreßte Höflinge, geistreiche Frauen plauderten in ihren Salons über Descartes, die Sprache, bald geheimnisvoll flüsternd, bald pathetisch rollend, verschmähte die Ausdrücke des Pöbels und floh das[11] Alltägliche, während von den Gobelins die gestickten Helden der Antike auf die im Winde flatternden Allongeperücken herabschauten: die Welt Molières, Corneilles und Racines taucht auf. Die Komödie suchte ihre Stoffe in Spanien und Italien, die Tragödie folgte den Spuren des Euripides, alle Länder und Zeiten trugen zur Verherrlichung des größten Repräsentanten des Absolutismus bei. Da mußte auch das Märchen seinen Tribut zahlen: der große Molière hielt das apulejische Rokokogeschichtchen von Amor und Psyche für gut genug zu einem Hofspektakel (1672) und Lafontaine, der ihm den Stoff dazu geliefert hatte, ließ sein zynisch-epikuräisches Weltbild in den Stoffen der Fabliaux und der Tiermärchen widerstrahlen. Lafontaine schöpfte seine »Nouvelles en vers« zumeist aus Boccaccio und Ariost, manche decken sich mit den Fabliaux, andere gehen bis auf die Antike zurück. Sein berühmtestes Werk, die »Fables« (1668–78), gehen den Weg Äsops. Viele davon haben Parallelen in noch heute erzählten Tiermärchen. Lafontaine hatte eine fast romantische Vorliebe für die Märchen, man kennt seine berühmte Stelle: »Si, Peau d'âne' m'étoit conté, j'y prendrois un plaisir extrème« (Fables VIII 4), dennoch schöpfte er kaum je aus dem Volksmund unmittelbar.
Je höher die Zivilisation der Menschheit steigt, desto weniger naiv steht sie dem Märchen gegenüber, es wird vom Selbstzweck zum Mittel zum Zweck, es steigt aus der abendlichen Spinnstube in das Kinderzimmer. In diesem Jahrhundert, das eine gleichmäßige Ausbildung aller menschlichen Fähigkeiten erstrebte – wobei es freilich die wichtigsten, die des Herzens und der Phantasie, vergaß –, erfüllte das Märchen eine ähnliche Funktion wie in den Exempeln der Dominikaner: es sollte moralische Lehren illustrieren, oder eher umgekehrt: es bekam ein moralisches Schwänzchen angehängt. 1697 erschienen die »Contes de ma mère l'oye« von Charles Perrault. Aber Perrault war kein Romantiker. Noch fünf Jahre zuvor hatte er gesagt: »Les fables milésiennes sont si puériles, que c'est leur faire assez d'honneur[12] que de leur opposer nos contes de Peau d'âne et de la mère l'oye.« Perrault lebt in der Literaturgeschichte als der geist- und wortreiche Vorkämpfer des Fortschritts im Kampfe gegen Boileaus antikisierende Irrgänge, und die Märchen, die sein Sohn auf seine Veranlassung niederschrieb, erschienen im gleichen Jahre, in welchem sein Lebenswerk, die »Parallèles des anciens et modernes« abgeschlossen wurde. Das Märchen war nur eine Erholung für seine Mußestunden und er blickte, wie seine ganze Zeit, mit einer gewissen Verachtung auf diese Jugendverirrungen der Menschheit herab, die erst durch den Anhang einer Nutzanwendung Existenzberechtigung erhalten konnten.
Nicht anders wie Perrault stellte sich die Gräfin Aulnoy zu den Märchen, die sie bearbeitete. Keine ihrer Erzählungen ist eine getreue Wiedergabe aus dem Volksmunde, sondern sie nahm die Motive, wo sie sie gerade fand, und setzte sie mit dem ihrer Zeit eigenen Geschmack zu jenen gefälligen, drolligen und etwas moraltriefenden Geschichtchen zusammen, die einen so ungeheuren Einfluß ausübten und zum Gesamtbild des Rokoko gehören wie die Bilder Watteaus und die Dramen Marivaux'. Den Ausschlag gab die Übersetzung aus Tausendundeinenacht, die Galland im Jahre 1709 brachte. Die Nachahmungen schossen derart aus dem Boden, daß die Sammlung all dieser Erzählungen im »Cabinet des fées«, die zu Ende des 18. Jahrhunderts veranstaltet wurde, nicht weniger als 41 stattliche Bände füllen konnte. Diese Feengeschichten, die zumeist von Frauen geschrieben sind (Gräfin Murat, Gräfin d'Auneuil, Gräfin Hamilton, Mlle. de la Force u.a.), und die so zierlich und zerbrechlich sind wie ein Rokokofigürchen, übten nicht nur auf die schreibende Mitwelt – man denke an die orientalischen Erzählungen Voltaires – einen tiefgehenden Einfluß aus, sondern sie zogen auch das lebende Märchen in ihren Bann, das sich im Volksmund nach seinem literarischen Vorbild umgestaltete. So erscheint das Märchen vom dankbaren Toten, das im Jahre 1725 von Mme. de Gomez unter dem Titel »Jean de[13] Calais« bearbeitet wurde, in den meisten französischen Fassungen der Gegenwart abhängig von diesem literarischen Vorbild. Das germanische Märchen von Rumpelstilzchen wurde von Mme. l'Héritier 1705 als »Ricdin-Ricdon« modernisiert, und diese Umformung verdrängte im Volksmund in starkem Maße die alte Form. Das Märchen von »La belle et la bête« wurde 1740 von Mme. de Villeneuve erzählt und erlangte eine solche Verbreitung, daß die Wissenschaft die außerordentlich verbreiteten volksmäßigen Varianten dieser Kunstnovelle auf diese letztere als auf ihre Quelle zurückführen zu sollen glaubte. Die meisten Kunstmärchen dieser Zeit freilich sind leere Phantasien: »Gemische aus sogenannten orientalischen Zauberwesen und modern schäferischen Liebesgeschichten«, so charakterisieren sie die Brüder Grimm. Die »Féeries nouvelles« des Grafen Caylus und die anonymen »Nouveaux contes de fées« aus dem Jahre 1718 verdienen noch hervorgehoben zu werden. Die »Contes bleues« wurden durch die eindringende Welle der englischen Literaturmode hinweggeflutet, sie wurden gesammelt, und Sammlungen beweisen stets, daß das lebendige Interesse an dem darin gesammelten Objekt im Erlöschen ist.
Die Romantik bezeichnet den Eintritt der abendländischen Welt ins Greisenalter; und wie sich das Alter gern mit einer gewissen sehnsüchtigen Wehmut vergangener Zeiten erinnert, so lebte jetzt die Anteilnahme an den Schöpfungen des Volksgeistes neu auf. Man betrachtete die Märchen mit ehrfürchtiger Scheu als Produktionen der dichtenden Volksseele und sah in ihnen einen Abglanz der mythischen Vorstellungen der germanischen Völker, wodurch das Bemühen gezeitigt wurde, diese einfältigen Kinder des Volkes so naturgetreu wie möglich nachzuzeichnen. Frankreich, das sich von den Anstrengungen der Revolution und der napoleonischen Kriege erholen mußte, erblickte in der Romantik eine willkommene Reaktion gegen die Überspannung der Jahrhundertwende und nahm die von Deutschland hereindringende Strömung willig auf. Während das Drama sich einerseits bemühte, das[14] historische Kolorit treu zu wahren, während Victor Hugo im Zeitalter Franz I. den geeigneten Boden für die Verwirklichung seines Kunstideals von der Vermischung des Sublimen und Grotesken erblickte, so fand andererseits der Messias der Romantik, Shakespeare, in Alfred de Musset seinen Apostel, der in seinen Märchendramen die Zeitlosigkeit und sonnenstrahlenhafte Zartheit der Märchengebilde am besten traf, und der in seiner »Barberine« nicht ohne Grund dasselbe Zymbelinemärchen verwertete wie sein großes Vorbild in der Geschichte von Imogen. Auf dem Gebiete der Novelle wäre vor allem Nodier zu nennen, der 1842 gemeinsam mit Leroux de Lincy die »Bibliothèque bleue« wieder aufleben ließ.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Märchen, die durch die Brüder Grimm für ganz Europa angeregt wurde, fand in Frankreich erst spät Nachahmer. Erst im Jahre 1845 erschien, wenn man von der kleinen Sammlung Pluquets aus Bayeux von 1832 absehen will, die Sammlung normannischer Sagen von Amélie Bosquet, die freilich weniger dem Märchen dient, und im gleichen Jahre veröffentlichte Souvestre den ersten Band seiner »Foyers bretons«, ein allzu individuell gefärbtes Werk, das für die Forschung nahezu wertlos ist. Von den sechziger Jahren an bemühte sich eine ganze Anzahl von Sammlern, die Schätze, die Frankreich noch birgt, unter Dach zu bringen. Vor allem ist Paul Sébillot, der Schöpfer und das Haupt der französischen Volkskunde, zu nennen, der nicht nur weit über seine hochbretonische Heimat hinaus als zuverlässiger und unermüdlicher Sammler tätig war, sondern auch in seinem Lebenswerk, dem »Folklore de France« (1904–07), das gesammelte Material zu einem Kompendium der französischen Volkskunde verarbeitete. Paul Sébillot ist der Herausgeber der wichtigsten volkskundlichen Zeitschrift Frankreichs, der »Revue des traditions populaires« (seit 1886). Die meiste Ausbeute bot die Bretagne, der die Werke von Luzel, Orain, Mme. de Cerny u.a. angehören. Weiter wären zu nennen[15] die Sammlertätigkeit Bladés für die Gascogne, Pineaus für Poitou, Lamberts für Languedoc, Carnoys für die Sommegegend und nicht den geringsten zuletzt: Cosquins, dessen treffliche Anmerkungen zu seinen lothringischen Märchen eine der elementarsten Grundlagen für die gesamte Märchenforschung darstellen und die hauptsächlich eine Brücke vom Orient zum modernen Okzident zu schlagen sich bemühen.
Es war hohe Zeit, die Schätze zu bergen, denn auf die Romantik folgte das Maschinenzeitalter, jene Epoche, in welcher die Menschheit in wahnsinniger Überhebung die Natur zu beherrschen glaubte, bis die Technik ihren Händen entglitt, eigenes Leben gewann und in wilder Raserei den Bau der Jahrhunderte zertrümmerte.[16]
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