[241] Es war einmal vor langen Zeiten ein junges Mädchen namens Isabeau, welches sehr unglücklich war; es hatte seine Mutter verloren, und sein Vater hatte sich wieder verheiratet mit einer Frau namens Seraphine, welche alt und bösartig war, so bösartig, daß die Dorfbewohner sich abwandten, um sie nicht anschauen zu müssen. Besonders die arme Isabeau hatte unter der Bosheit der Stiefmutter zu leiden. Isabeau war von ihrer ersten Mutter mit Peter verlobt worden, einem braven Burschen, der tüchtig bei der Arbeit und immer beim ersten Hahnenschrei auf den Beinen war. Die böse Seraphine wollte ihre Stieftochter peinigen, daher schickte sie Peter fort und verbot ihm, in das Haus zurückzukehren. Isabeau und Peter hatten einander sehr lieb; sie beschlossen, sich trotzdem zu treffen und gaben sich Stelldichein hinter der Gartenhecke nach dem abendlichen Angelusläuten. Aber kaum waren sie beisammen, so sahen sie Seraphine mit einem Prügel bewaffnet herbeieilen; sie ergriffen[241] die Flucht, aber die Stiefmutter erreichte die arme Isabeau und schlug sie ohne Erbarmen.
Isabeau war blau und braun geschlagen und zerfloß in Tränen; sie fürchtete, noch grausamer geschlagen zu werden, wenn sie nach Hause zurückkehrte, daher wanderte sie immer gerade aus. Lange wanderte sie so, ohne groß daran zu denken, wohin sie ginge; und als sie sich endlich wieder auskannte, befand sie sich mitten auf einer großen Heide. Von Müdigkeit erschöpft, ließ sie sich am Fuße eines Felsblocks nieder und fing an, reichliche Tränen zu vergießen; dann schlief sie nach und nach ein. Als sie erwachte, stand der Mond hoch am Himmel, die Sterne funkelten und Isabeau fürchtete sich so allein inmitten dieser öden, nackten Ebene. Sie zitterte, da sie den Schrei einer Eule, des Unglücksvogels, hörte, und bebte, als sie Sterne über den Himmel hinwegfliegen sah, denn die Sternschnuppen, hatte man ihr gesagt, sind die Seelen der Toten, die in die andere Welt gehen. Plötzlich glaubte sie in der Stille der Nacht von ferne eine Dorfuhr die zwölf Mitternachtsschläge anschlagen zu hören, und gleich darauf sah sie die Heide zittern und sich bewegen. Zuerst erblickte sie ein kleines Wesen, nicht größer als ein Kind, welches unter einem Stein hervorschlüpfte; es hatte einen dicken Kopf und einen langen weißen Bart, der bis zum Boden reichte; gleich darauf begegnete ihm eine kleine, alte, ganz runzelige Frau, welche mehr als hundert Jahre alt zu sein schien; dann kroch unter jedem Kieselstein, unter jedem Heidekraut ein ähnliches kleines Wesen hervor. Es waren ihrer Tausende, soviel als Hirsekörner auf einen Scheffel gehen, und alle liefen und bewegten sich auf das lebhafteste. Schließlich begannen alle zu tanzen und zu singen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen ...« Das junge Mädchen wollte fliehen, aber eines der kleinen Wesen nahm es bei der Hand und sprach: »Da ist Isabeau, ein Menschenkind, das mit uns tanzen und singen soll.« »Ja, tanze mit uns, Isabeau, tanze mit uns!« wiederholten alle die andern. »Wie soll ich mit euch tanzen?« entgegnete das arme Mädchen,[242] »ihr singt ja immer dasselbe!« »So füge etwas hinzu, Isabeau, dann wirst du unsere Leiden beenden. Wir sind arme Seelen, verdammt von Mitternacht bis Tagesanbruch zu tanzen und zu singen, und das solange, bis wir unsern Lobgesang zum Preise des Herrn vollendet haben. Seit mehr als hundert Jahren arbeiten wir daran, und wir haben erst das erfunden, was du soeben gehört hast.« Und alle armen Seelen begannen wieder mit flehender Stimme zu rufen: »Fahre fort, Isabeau, fahre fort, fahre fort!« Das junge Mädchen dachte einen Augenblick nach, dann nahm es eine der armen Seelen bei der Hand und sang: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen /loben Gott den Herren, loben Gott den Herrn.« Alle Seelen fingen in rasender Freude mit noch größerer Lebhaftigkeit an zu tanzen und wiederholten, was Isabeau sie soeben gelehrt hatte. Sie tanzten bis Tagesanbruch. Isabeau war vor Müdigkeit erschöpft. Aber die Seelen baten sie immerfort mit ihren feinen Stimmchen und sagten: »Fahre fort, fahre weiter fort, Isabeau!« »Heute nicht,« entgegnete sie, »aber ich werde wiederkommen, ehe der Hahn viermal gekräht hat.« »Um dir für den Dienst zu danken, den du uns erwiesen hast,« sagte die Seele zu ihr, welche die älteste zu sein schien, »stellen wir dir eine Bitte frei und werden dir gewähren, was du willst.« »Gut,« erwiderte Isabeau, »meine Stiefmutter will nicht, daß ich meinen Bräutigam treffe: gebt mir ein Mittel, daß sie sich entfernen muß, wenn ich bei ihm bin.« »Nimm diesen Ring,« versetzte die Seele, »jedesmal, wenn du ihn an den Finger streifst, wird deine Stiefmutter gezwungen sein, zu gehen und ihren Kohl zu zählen, und sie wird so lange dazu brauchen, wie du willst.«
Isabeau nahm den Ring und kehrte zu ihrem Vater zurück. Als sie heimkam, stand die Sonne schon sehr hoch; sie begegnete Peter, der in der Hoffnung, sie zu treffen, um den Hof streunte. Als die böse Seraphine ihrer gewahr wurde, nahm sie einen Stock und eilte herbei, um sie zu schlagen; aber Isabeau streifte ihren Ring an, und sogleich ließ die[243] Stiefmutter ihren Stock fallen und wandte sich mit eiligen Schritten nach dem Garten, wo sie sich daran machte, ihren Kohl zu zählen. Vom Garten ging sie auf den Acker, und als sie fertig war, fing sie wieder von vorn an. Als sie heimkam, war sie so müde, daß sie nicht einmal daran dachte, Isabeau zu schlagen. Am nächsten Tage kam Peter, um seine Verlobte zu besuchten, und diese schickte ihre Stiefmutter zum Kohlzählen. Isabeau hätte ihren Geliebten am liebsten ständig bei sich gehabt, und sie bestand darauf, daß er länger bleiben solle; aber Peter, der einen wankelmütigen Charakter hatte, war bald dieser leichten Mühe satt, und am dritten Tage sagte er zu dem Mädchen: »Es lohnt sich nicht mehr, deine Stiefmutter zum Kohlzählen zu schicken; ich mag nicht mehr zu dir kommen. Heute gehe ich mit Miette auf den Ball, die ist hübscher als du und hat nicht so rote Augen vom vielen Weinen. Adieu, Isabeau!« Das arme Mädchen grämte sich sehr. »Ach,« sagte sie, »dieser Ring hat mir nur dazu gedient, meinen lieben Peter, den ich so innig liebe, zu verlieren! Heute abend noch werde ich ihn den armen Seelen zurückerstatten.«
Als es Abend wurde, begab sie sich von neuem auf die Heide und wanderte lange Zeit in der Finsternis. Ihr Herz pochte heftig, das geringste Geräusch machte sie erzittern. Als sie an die Stelle kam, an welcher sie vor drei Tagen eingeschlafen war, war es fast Mitternacht, daher gewahrte sie alsbald die armen Seelen, welche sie umringten mit dem Ruf: »Ah! Da ist Isabeau! Sie wird wieder mit uns tanzen und singen!« Sie faßten sie bei der Hand und zogen sie in ihren Reihen, indem sie dabei wie das vorige Mal sangen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen / loben Gott den Herren, loben Gott den Herren.« »Aber das ist noch nicht genug«, sagte Isabeau. »Fahre fort, fahre weiter fort, Isabeau!« riefen alle armen Seelen. Da sang das junge Mädchen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen / loben Gott den Herren, / der die Welt erlösen wird.« Und die Seelchen begannen begeistert zu tanzen, bis der Tag heraufdämmerte.[244] Beim ersten Strahl der Morgenröte hielt der Tanz an. Die älteste Seele trat zu Isabeau und sagte wie das erstemal zu ihr: »Du hast uns wieder einen großen Dienst geleistet, Isabeau; bitte uns, um was du willst, wir werden es dir gewähren.« »Ich gebe euch eueren Ring zurück,« sagte Isabeau, »er hat mich recht unglücklich gemacht und hat mir nur dazu gedient, meinen Verlobten zu verlieren. Er zieht mir ein anderes Mädchen vor, welches er hübscher findet als mich. Ich möchte schön sein, sehr schön, damit er mich alleweil liebe.« Da nahm die alte Seele ein Halsband von ihrem Halse und legte es um den des jungen Mädchens mit den Worten: »Geh, du bist jetzt schöner als der Tag, kein Menschenkind kann sich dir vergleichen; aber du wirst glücklich sein und vielleicht wirst du uns vergessen; ohne dich können wir niemals unseren Lobgesang vollenden. Komm wieder zu uns, Isabeau!« »Was auch kommen mag,« erwiderte das junge Mädchen, »ich komme, ehe der Hahn viermal gekräht hat.«
Isabeau machte sich wieder auf den Weg nach ihrem Dorf, aber sie verirrte sich und kam an einem Bauernhofe vorüber, auf welchem man gerade am Dreschen war; sie bat die Drescher, ihr den Weg zu weisen. Kaum hatten sie diese bemerkt, als sie ihre Arbeit im Stich ließen und ihre Flegel zur Erde warfen; sie stürzten sich auf Isabeau und brachen in verwunderte Rufe aus: »Oh! Wie ist sie schön, wie ist sie schön!« Alle umringten sie und boten sich an, sie zu ihrem Vater zurückzubringen, der eine schlug seinen Karren vor, der andere seinen Esel, der dritte seinen Rücken. Aber die Frauen bedrohten bei diesem Anblick das junge Mädchen, zeigten ihm die Faust, fuchtelten mit ihren Besen und Rechen herum und behandelten sie wie eine Straßendirne und wie eine freche Person. Isabeau setzte ihren Weg fort, aber je weiter sie vorwärts kam, desto dichter wurde das Gedränge von Bewunderern. Alle Männer, die ihr auf dem Wege begegneten, wurden von ihr angezogen wie das Eisen vom Magneten. So kam sie in ihr Dorf. Peter bemerkte sie und bezeigte eine große Bewunderung. Isabeau war trotz ihres Ärgers darüber[245] sehr befriedigt, aber die böse Seraphine geriet in heftigen Zorn, sie stürzte sich auf das junge Mädchen los, um es zu schlagen. Sie berührte Isabeau, aber da sie ihr schönes Halsband gewahrte, bemächtigte sie sich desselben und legte es sich um den Hals. Sogleich sah sich die wackere Frau trotz ihres runzligen Gesichts und ihres wackelnden Kopfes von allen Männern, die zugegen waren, umringt. Sie überstürzten sich, um bei ihr zu sein, um sie zu sehen; sie drückten sie und stießen sie, so daß die böse Alte, zerschlagen und halb zerquetscht an den Rand des Gemeindebrunnens gedrängt, endlich begriff, daß das Halsband, welches sie trug, all ihre Leiden verursachte. Sie riß es ab und warf es auf den Grund des Wassers. Sogleich wich der Zauber, die Männer zerstreuten sich und lachten und spotteten über die Alte, die sie einen Augenblick zuvor noch bewundert hatten. Die böse Frau kehrte in ihr Haus zurück und rächte sich an Isabeau für die erduldete Unbill. Sie überhäufte sie mit Schlägen, und selbst Peter warf dem jungen Mädchen vor, daß es nächtlicherweile weit umher streune und Hunderte von Männern hinter sich herziehe. »Übrigens«, sagte er zu ihr, »werde ich nicht wiederkommen, denn ich besuche jetzt ein junges Mädchen, welches reicher ist als du.«
Isabeau weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht. »Ich sehe ein,« sagte sie, »daß die Gaben der Seelen mir zu nichts gedient haben. Warum habe ich nicht den Reichtum von ihnen verlangt? Nächste Nacht werde ich zurückkehren und sie darum bitten.« Abends, als alles schlafen gegangen war, begab sie sich zum dritten Male auf die große Heide, und beim Mitternachtsschlag erschienen die armen Seelen. »Wir warteten schon auf dich, Isabeau«, sagten sie zu ihr. »Hast du unseren Lobgesang weitergedichtet? Singe, Isabeau, singe doch wieder!« Und die Seelchen begannen um das junge Mädchen herumzuwirbeln, indem sie dabei wie das vorige Mal sangen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen / loben Gott den Herren, / der die Welt erlösen wird.« Von Zeit zu Zeit unterbrachen sie sich und sagten: »Fahre fort,[246] Isabeau, fahre fort, fahre weiter fort!« Das junge Mädchen dachte lange nach, endlich begann es zu singen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen /loben Gott den Herren, / der die Welt erlösen wird, /die Guten und die Bösen.« Alle armen Seelen sangen diese Worte Isabeaus nach. Aber bald hielten sie in ihrem Tanz inne, brachen in Freudenschreie aus und bezeugten ihre Fröhlichkeit durch Tänze und Sprünge. Die ganze Heide schien in einem Zittern des Glücks zu erbeben. Und alle riefen: »Dank, Isabeau, du hast uns erlöst, unser Lobgesang ist vollendet und wir dürfen in die ewige Glückseligkeit eingehen. Bitte uns um etwas, Isabeau, bitte uns, um was du willst!« »Um die Liebe meines Peter zu besitzen,« sagte sie, »möchte ich den Reichtum.« »Du sollst ihn haben, du sollst ihn haben!« riefen Tausende von dünnen Stimmchen. »Du sollst reich sein, reich, reicher als der König!« Und eine der kleinen Seelen berührte Isabeaus Hand und sprach zu ihr: »Geh, Menschenkind, jede deiner Tränen wird von nun an eine Perle sein oder ein Diamant von unermeßlichem Werte.« Dann trat ein kleiner Greis mit einem langen weißen Bart hinzu und hielt in der Hand einen winzig kleinen Gegenstand, eine bescheidene Nadel. »Nimm,« sagte er zu ihr, »nimm diese Nadel! Solange du sie an dein Mieder steckst, wird dir Peter mit treuer Liebe zugetan sein. Leb wohl, Isabeau!« Die Morgenröte dämmerte herauf und die Schar der armen Seelen machte sich nach und nach von der Heide los und erhob sich wie ein Morgennebel zum Himmel, sie stiegen empor und verschwanden im glühenden Azur des Firmaments.
Isabeau kehrte zu ihrem Vater zurück, betrübt über die Trennung von den armen Seelen, aber glücklich, da sie an die Rückkehr ihres Peter dachte. Als sie ins Haus trat, stürzte sich ihre Stiefmutter mit geballten Fäusten auf sie und begann sie zu schlagen und mit Schmähworten zu überhäufen. Isabeau weinte, und ihre Tränen rieselten in Perlen und Diamanten verwandelt auf den Boden. Die böse Seraphine, nachdem sie sich von ihrer ersten Überraschung erholt hatte,[247] begann wie verrückt und trunken vor Freude über den Anblick solchen Reichtums mit Wut auf ihre arme Stieftochter loszuschlagen und rief: »So weine, weine doch, Unselige! Weine, so weine doch heftiger!« Sie brauchte, um die kostbaren Tränen zu sammeln, den Eimer, den Zuber, die Salzkiste, kurz alle Geräte, die in Reichweite waren, und sie waren bald voll von Perlen und wunderbaren Diamanten. In diesem Augenblicke ging Peter vorüber und fühlte sich angezogen ohne Zweifel durch die Nadel der stetigen Liebe, welche das junge Mädchen besaß. Er trat in das Haus, und ohne die Reichtümer, die er mit Füßen trat, zu beachten, erblickte er nur eines: seine Verlobte grausam geschlagen von der Stiefmutter. Von Unmut ergriffen, stürzte er sich auf diese, packte sie bei der Gurgel und hielt sie fest, aber die Alte rief ihm zu: »Schlag sie, Peter, schlag sie doch, sie weint ja Perlen!« Peter hielt sie immer noch fest, und rasend vor Zorn, daß sie ihre Stieftochter nicht schlagen konnte, um noch mehr Reichtümer zu erlangen, erstickte sie und fiel plötzlich tot zu Boden. Wenige Wochen später heiratete Peter Isabeau. Jedermann bemerkte, daß sie einander innig zu lieben schienen. Sie waren die reichsten Leute des Landes und bekamen vierzehn Kinder. Peter verspürte niemals Lust, sein Vermögen zu vermehren, indem er seine Frau weinen ließ, der er bis zu seinem Tode in treuer Liebe zugetan war.
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