44.
Der braune Bär von Norwegen.

[86] Es war einmal ein König, der hatte drei wunderschöne Töchter, und als er eines Tages mit ihnen ihm Garten spazieren ging, fragte er sie, wen sie sich zum Gemahl wünschten.

»Ich will den König von Ulster,« erwiderte die Aelteste rasch; »und ich den König von Münster,« sagte die Zweite, und die Dritte wünschte sich den »Braunen Bär von Norwegen«, wofür sie aber ausgelacht wurde, denn dies war ein verzauberter Prinz, von dem ihr ihre Amme häufig erzählt hatte.

In der folgenden Nacht träumte sie von ihm so lebhaft, daß sie aufwachte; und da sie nicht mehr einschlafen konnte, so stand sie auf und ging spazieren und kam in ein großes Schloß, das von tausend Lampen erleuchtet war. Eine heitere Gesellschaft befand sich dort, und darunter war auch der Prinz, den sie so oft in ihren Träumen gesehen hatte. Sobald dieser sie bemerkte, ging er auf sie zu und bat sie knieend, seine Königin zu werden. Sie gab ihm ihre Hand und ließ sich auch gleich mit ihm trauen, wonach die Gesellschaft den Saal verließ.

Als nun das junge Ehepaar allein war, sprach der Prinz: »Mein lieber Schatz, ich bin leider verzaubert. Eine alte Hexe, deren Tochter ich heiraten sollte, hat den Fluch über mich ausgesprochen, dem zufolge ich auf fünf Jahre am Tage die Gestalt eines Bären annehmen muß, und wenn mir bis dahin keine Jungfrau aus freier Wahl die Hand zum Ehebunde reicht, so werde ich jene Form wohl bis an mein Ende behalten müssen.«

Als die Prinzessin am nächsten Morgen erwachte und ihren Gemahl nicht an ihrer Seite fand, war sie sehr traurig und sprach den ganzen Tag kein Sterbenswort. Doch am Abend darauf fand sie ihren Liebsten wieder in dem erleuchteten Saale und blieb die ganze Nacht bei ihm, und zum Abschiede beschwor er sie, sich ja nicht seiner Abwesenheit und Verzauberung wegen zu grämen, da sie sonst auf ewig getrennt würden. Und mit der Zeit gewöhnte sie sich auch an ihr Schicksal.

Nach Verlauf eines Jahres gebar sie einen schönen Knaben.[86] Nun war sie überglücklich, denn sie hatte jetzt am Tage, wenn sie ihren Gemahl nicht sehen konnte, wenigstens sein Abbild bei sich. Doch dieses Glück dauerte nicht lange; denn als sie einst an einem schwülen Sommerabende mit dem Knaben auf dem Arme am offenen Fenster saß, kam unversehens ein großer Adler herbeigeflogen, packte das Kind am Kleide und trug es fort über alle Berge.

Die Frau saß einige Augenblicke wie versteinert da, doch da sie ihrem Gemahl versprochen hatte, während fünf Jahren Alles ohne zu klagen zu erdulden, so hielt sie ihre Thränen zurück und tröstete sich mit der Hoffnung auf glücklichere Zeiten.

Als sie im darauffolgenden Jahre ein Mädchen gebar, war sie so besorgt darum, daß Niemand das Fenster über zwei Zoll aufmachen durfte. Doch das half auch nichts; denn als sie einst damit bei ihrem Gemahle saß, stand auf einmal ein großer Hund vor ihr, riß ihr das Kind aus dem Schooße und sprang damit zur Thüre hinaus. Alles dies war das Werk eines einzigen Augenblicks. Die Frau lief ihm nach so schnell wie sie konnte, aber Hund und Kind waren und blieben spurlos verschwunden. Ihres Versprechens eingedenk, weinte und klagte sie nicht, nahm sich aber vor, künftig noch vorsichtiger zu sein.

Als sie das dritte Kind gebar, durften weder Thüren noch Fenster im Hause geöffnet werden. Doch es half auch nichts; denn eines Abends trat, ohne daß sie wußte, woher, eine Frau vor sie, wickelte ihr Kind in einen Shawl und verschwand. Ob sie in den Boden sank oder durch den Schornstein entschlüpfte, wußte die arme Mutter nicht anzugeben, so verwirrt waren ihre Sinne. Dieser Schicksalsschlag brachte sie einen Monat auf das Krankenlager. Als sie wieder genesen war, äußerte sie den Wunsch, einige Tage bei ihrem Vater und ihren Geschwistern zuzubringen, was ihr Gemahl auch zufrieden war. »Gehe,« sagte er zu ihr, »und wenn du dich wieder zurücksehnst, so sprich einfach deinen Wunsch am Abende aus, wenn du dich in's Bett legst.«

Am nächsten Morgen fand sie sich wieder in ihrem alten Schlafzimmer im Palaste ihres Vaters. Sie zog die Klingel und gleich erschienen alle ihre Verwandten, die nur Freudenthränen weinten, als sie sich glücklich wiedersahen. Die junge Frau erzählte nun ihre trübe Leidensgeschichte und ihre Geschwister beschlossen, eine alte, kluge[87] Frau, die gewöhnlich Eier in das Schloß brachte, um Rath zu fragen.

»Da kann sich die junge Frau ja leicht helfen,« sagte diese, »sie soll einfach zusehen, wo ihr Gemahl am Abend seine Bärenhaut hinlegt und sie dann verbrennen.«

Sie versprach, es zu thun und wünschte sich auch gleich am nächsten Abend zu ihm zurück. Kurz darnach lag sie in seinen Armen. Diesmal aber trank sie nicht aus dem Becher, den er ihr gewöhnlich vor dem Einschlafen reichte und blieb daher die ganze Nacht wach. Als er nun in tiefem Schlafe lag, stand sie auf und warf das Bärenfell in's Feuer und wandte kein Auge davon, ehe es nicht ganz verbrannt war.

Am nächsten Morgen sah er sie traurig an und sprach: »Unglückliches Weib, du hast uns auf ewig getrennt! Warum konntest du dich nicht noch zwei Jahre gedulden? Die Bärenhaut sicherte mich gegen die Angriffe der Hexe; jetzt aber muß ich zu Fuß zu ihr und mit ihrer Tochter zusammen leben. Die Eierverkäuferin, welche dir den unglückseligen Rath gab, war die alte Hexe selber. Lebe wohl!«

Darauf küßte er sie und ging fort. Sie zog sich so schnell wie möglich an und folgte ihm, aber sie konnte ihn nicht mehr einholen. Am Abend, als sie beinahe vor Müdigkeit zusammengebrochen war, bemerkte sie, daß er in ein kleines Häuschen ging. Dort fand sie ihn wieder und zwar mit einem Knaben auf dem Schooße im Zimmer einer Frau von mittleren Jahren.

»Hier,« sagte er zu ihr, »ist dein ältestes Kind, und dort steht auch der Adler, der es wegtrug.« Dabei deutete er auf jene Frau.

Als sie ihr Kind wieder sah, war sie außer sich vor Freude und das Herzen und Küssen wollte fast gar kein Ende nehmen. Während dieser Zeit wusch ihr die fremde Frau die Füße mit einem Wunderöle.

Am nächsten Morgen ging der König weiter. »Hier,« sagte er zum Abschiede zu seiner Frau, »ist ein Ding, das dir von großem Nutzen sein kann. Es ist eine Scheere, die alles, was du damit schneidest, in Seide verwandelt. Sobald die Sonne scheint, schwindest du aus meinem Gedächtnisse, und erst nachdem sie untergegangen ist, erinnere ich mich wieder, daß ich Frau und Kinder habe.«[88]

Ohne sich nach ihr weiter umzusehen, marschirte er vorwärts und kam am Abend in eine Hütte, wo sich seine Tochter befand. Die Frau war ihm abermals gefolgt, und am nächsten Morgen erhielt sie einen Zauberkamm von ihm, mit dem man Perlen und Diamanten aus dem Haare kämmen konnte.

Am dritten Abende sahen sie ihr jüngstes Kind, und am Morgen darauf sagte er, er sehe sie jetzt zum letzten Male und gab ihr zum Abschiede einen Haspel mit einem endlosen goldenen Faden und die Hälfte seines Traurings. »Ich gehe jetzt,« fuhr er fort, »in einen großen Wald und mit dem Augenblicke, in dem ich ihn betrete, verliere ich die Erinnerung an mein bisheriges Leben. Nur wenn es dir gelingt, meine Schlafstelle ausfindig zu machen, und du dann die Hälfte des Ringes neben die meinige legst, werde ich wieder wissen, wer du bist.«

Darauf verschwand er im Walde. Das Gebüsch schloß sich hinter ihm so dicht und fest wie eine Mauer, doch als die Frau mit ihren Zaubergaben ankam, öffnete es sich und ließ sie durch. Bald stand sie vor einem großen Schlosse, in dessen Nähe die Hütte eines Holzhackers war. Dort ging sie hinein und fragte die Hausfrau, ob sie keine Magd brauchte. Lohn wolle sie nicht; ja, sie wolle ihr noch so viele Diamanten und Perlen geben, wie sie nur wünsche. Unter diesen Umständen durfte sie natürlich bleiben.

Es dauerte nicht lange, so hörte der König von einer jungen Magd reden, die so schön sei, daß sie sicherlich nicht ihresgleichen auf der ganzen Erde habe. Aber die Tochter der Hexe hörte es auch und ging hin, sie zu sehen, und fand sie, als sie gerade damit beschäftigt war, Papier zu zerschneiden, das sich in die feinste Seide verwandelte. Sie war ganz erstaunt darüber und fragte sie, was sie für ihre Scheere haben wolle.

»Nichts!« erwiderte die schöne Magd; »doch kannst du sie unter der Bedingung haben, daß du mich eine Nacht in dem Schlafgemach deines Gemahls zubringen lässest!«

Die junge Hexe ging darauf ein und schickte sie in der folgenden Nacht in das Zimmer ihres Mannes. Dieser lag jedoch in so tiefem Schlafe, daß er ihr Kommen gar nicht bemerkte und auf alle ihre Fragen keine einzige Antwort gab. Darauf sang sie:
[89]

»Vier lange Jahr'

Dein Weib ich war,

Der Kinder drei

Ich dir gebar;

Auf, brauner Bär, wach' auf!«


Doch er regte sich nicht und sie mußte am nächsten Morgen unverrichteter Sache abziehen.

Am Nachmittage ging die junge Hexe an der Hütte des Holzhackers vorbei und sah, wie die schöne Dirne die Diamanten und Perlen haufenweise aus ihrem Haare kämmte. Den Wunderkamm mußte sie unter jeder Bedingung haben und erhielt ihn auch gegen denselben Preis wie die Scheere.

Auch in der zweiten Nacht konnte sie ihren Gemahl nicht aufwecken. Während sie nun am folgenden Tag am Fenster saß, kam der Prinz zufällig vorbei und da sie ihm gefiel, so fragte er sie, ob er ihr einen Gefallen thun könne.

»O ja,« erwiderte sie, »trinke heute Abend nicht aus dem Glase, das dir deine Gemahlin vor dem Schlafengehen reichen wird.«

Er sagte, er wolle es thun und als er fort war, kam die junge Hexe vorbei und sah den Wunderhaspel, mit der man einen endlosen goldenen Faden spinnen konnte, in der Hand der Magd.

»Was willst du dafür haben?« fragte sie.

»Laß mich heute Nacht wieder im Zimmer deines Mannes zubringen!«

»Recht gerne!«

Am Abend kam sie in das Schlafgemach und sang:


»Vier lange Jahr'

Dein Weib ich war,

Der Kinder drei

Ich dir gebar;

Auf, brauner Bär, wach' auf!«


»Ich verstehe dich nicht!« antwortete der Prinz.

»Weißt du denn nicht mehr, daß ich deine Frau war?«

»Nein; aber ich wünsche, es wäre jetzt so!«

»Kennst du denn die Hälfte dieses Ringes nicht mehr?«

Als der Prinz den Ring sah, bekam er sein Gedächtniß wieder und der Zauber ward machtlos. Das Schloß fing an allen Ecken an zu krachen und als es die Leute verlassen hatten, stürzte es zusammen.[90] Die Hexe und ihre Tochter wurden nie mehr gesehen; der Prinz und seine Gemahlin aber holten sich ihre Kinder wieder, gingen seelenvergnügt nach Hause und lebten glücklich bis an ihr Ende.

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 86-91.
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