CV. Der Meisterdieb.

[367] Árn. II, 511–516.


Nach der Erzählung eines Mannes aus dem Eyafjörður.


Ein armes Bauernpaar, das in der Nähe eines Königsschlosses wohnt, hat nur eine Kuh, um sein Leben zu fristen. Eines Sonntags ist der Mann in der Kirche und hört hier, dass der Pfarrer von der Mildtätigkeit spricht und sagt, dass dem, der gäbe, tausendfach wiedergegeben würde. Ganz glückselig kommt er heim und erzählt seiner zweifelnden Alten von den Worten des Pfarrers. Am folgenden Tage lässt er gleich eine Menge Arbeiter kommen und sich einen Kuhstall für tausend Kühe bauen. Wie die Leute damit fertig sind, überlegt das Bäuerlein, wem er seine einzige Kuh schenken solle, um dann tausend Kühe zurückzuerhalten. Endlich entschliesst er sich, mit ihr zum Pfarrer zu gehen, da dieser ja reich ist und am wenigsten wohl seine eigenen Worte zu Schanden werden lässt. – Wie er dem Pfarrer seine Kuh zum Geschenk bringt, fragt ihn der erstaunt, was das bedeuten solle. Das Bäuerlein setzt ihm nun seine Auffassung der Predigt auseinander. Er wird wegen seiner Dummheit vom Pfarrer gründlich ausgescholten und muss mit seiner Kuh wieder heim wandern. Auf dem Wege überfällt ihn ein solches Unwetter, dass er fürchtet, mit seiner Kuh umkommen zu müssen. Er begegnet einem Manne, der einen schweren Sack auf dem Rücken trägt. Dieser weiss das Bäuerlein zu beschwatzen, ihm für den Sack, in dem Fleisch und Knochen seien, die Kuh zu vertauschen. Er kommt nun, keuchend unter der Last, in seine Hütte und fordert die Frau auf, sogleich einen Topf mit Wasser aufzusetzen, damit sie das Fleisch aus dem Sacke kochen könnten. Wie er aber den Sack öffnet, springt aus diesem ein Mann, der vom Scheitel bis zur Zehe grau gekleidet ist. Ihm wird natürlich von den beiden enttäuschten Alten gerade kein freundlicher Empfang bereitet. Doch der Graue verspricht, für ein Mahl sorgen zu wollen, geht hinaus in die Dunkelheit und kommt nach kurzer Zeit mit einem fetten Schafe zurück. Er hat es von der Herde des Königs gestohlen, und[368] von dort her holt er auch weitere Tiere, sowie der Fleischvorrat in der Hütte zu Ende ist. Der Hirte geht schliesslich zum Könige und bittet diesen, den Dieb ermitteln zu lassen. Da erst seit des Grauen Anwesenheit die Schafe gestohlen werden, so fällt auf ihn der Verdacht. Er wird vor den König gerufen, vor dem er auch unumwundeu seine Diebstähle eingesteht. Der König habe so viele Schafe, während die alten Leute nichts zu essen hätten. Da sei es nicht mehr wie recht, dass der König von dem, was er zu viel besitze, ihnen abgebe. – Der König verspricht, ihn trotz des Diebstahls laufen zu lassen, wenn er es am anderen Tage fertig brächte, ihm seinen fünfjährigen Ochsen zu stehlen. – Der Graue geht am andern Tage mit einem Strick in den Wald und hängt sich an den Baum, an dem kurz nachher die Wächter mit dem Ochsen vorbeikommen müssen. Wie diese ihn dort erhängt sehen, fühlen sie sich ordentlich beruhigt, denn nun kann der Dieb ihnen ja nichts mehr anhaben. Nach ihrem Weggange läuft der Graue an eine andere Stelle des Waldes, die auch am Wege der Wächter liegt, und hängt sich hier wieder auf. Wie die Wächter ihn nochmals am Baume hängen sehen, wollen sie ihren Augen kaum trauen! Sie beschliessen, zurückzulaufen, um nachzuschauen, ob es zwei derartige Diebe gibt. Den Ochsen binden sie dann mittlerweile an den Baum. Sowie sie weggelaufen sind, springt der Graue zu Boden, nimmt den Ochsen und führt ihn zur Hütte der Bauersleute. Hier wird er sogleich geschlachtet, das Fleisch gegessen, die Haut zubereitet und aus dem Talg Kerzen gemacht. – Nach ihrer Rückkehr entdecken die Wächter den Diebstahl des Ochsen und laufen zum König. Der Graue muss wiederum vor ihm erscheinen. Jetzt soll ihm der Diebstahl nur verziehen werden, wenn er aus dem Bette des königlichen Paares in der Nacht das Betttuch stiehlt. – Noch ehe das Schloss abends fest vor ihm verriegelt wird, ist der Graue aber schon drinnen versteckt mit einem Topfe dicker, warmer Grütze. Als das Königspaar eingeschlafen ist, träufelt er zwischen sie einen Teil warmer Grütze. Die Königin erwacht, als sie den warmen Brei fühlt. Sie weckt ihren Mann und beschuldigt ihn, das Bett[369] beschmutzt zu haben. Der König ist natürlich über den Verdacht sehr entrüstet und will seiner Frau die Schuld zumessen. Eine Weile zanken sich beide über die Täterschaft, dann nehmen sie die beschmutzten Betttücher aus dem Bett, werfen sie auf den Boden und geben sich nun der Ruhe hin. Der Graue nimmt schleunigst das Tuch, das er zur Hütte bringt, um es von der Bäuerin noch in der Nacht wieder reinigen zu lassen. – Der König stellt nun dem Dieb die Aufgabe, ihn selbst samt der Königin in der nächsten Nacht aus dem Schlosse zu stehlen. – Der Graue nimmt einen grossen, breitkrämpigen Hut des Bauern und besteckt ihn voller Talgkerzen. In der gleichen Weise bringt er an seinem ganzen Körper allenthalben Talgkerzen an. Darauf nimmt er den Balg von dem gestohlenen Ochsen und begibt sich spät Abends zur Schlosskirche. Den Balg legt er an dem Altare nieder, entzündet darauf alle Kerzen und beginnt die Glocken zu läuten. Von dem ungewöhnlichen Geläute erwachen König und Königin. Sie treten ans Fenster und sehen in der Kirchentüre eine wunderbare Gestalt stehen, von der nach allen Seiten Licht ausstrahlt. Sie sind überzeugt, dass das ein Engel sein muss, ziehen ihre prächtigsten Gewänder an und eilen zur Kirche, um den hehren Gast demütig zu begrüssen. Der Engel nimmt ihre Huldigungen würdevoll entgegen. Er will ihnen auch ihre Sünden vergeben, wenn sie vorher beide zusammen in den Ochsenbalg kriechen wollen. Dazu ist das Königspaar gerne bereit. Sowie sie drinnen sind, bindet der Engel den Balg zu und schleift ihn rücksichtslos durch die Kirche. Der König fragt erstaunt, was das zu bedeuten habe. Er erfährt nun zu seinem Schrecken, dass der Graue ihn wieder überlistet hat, und dass er samt der Königin vom Diebe mit dem Tode bedroht wird, wenn er ihm nicht mit heiligem Eide die Erfüllung einer Bitte zusage. Sowie der König aus dem Sack ist, muss er nun dem Dieb zu allem übrigen noch seine Tochter und das halbe Reich versprechen und ausserdem die Erlaubnis geben, dass der alte Bauer mit seiner Frau auch im Königsschlosse wohnen darf. – Wie nun die Hochzeit gefeiert wird, erzählt der Graue, dass er kein Dieb von Profession, sondern der[370] Sohn eines Nachbarkönigs sei. Er habe vom Pfarrer gehört, in welcher Weise das Bäuerlein die Predigt aufgefasst hatte, und so habe er für den gläubigen Alten die Worte der Schrift buchstäblich erfüllen wollen.

Benf. sagt in seiner Einleitung zur Pantschatantra (Benf. I, S. 295), dass diese Erzählung, von buddhistischem Ursprung, eines der verbreitetsten Märchen in Asien und Europa geworden sei. Schon in der mongolischen Bearbeitung des Vetâlapancaviçati, im Siddhi-Kür, soll in der zwölften Erzählung (Benj. Bergmann »Nomadische Streifereien« I, 261) ein Meisterdieb den Talisman des Königs auf dessen eigenen Befehl zu stehlen suchen. –

Bei Strap. (1. Nacht, 2. Fabel I, S. 33 ff.) raubt ein berüchtigter Dieb seinem Freunde, einem Richter, sein eigenes Bett, dann sein Pferd. Schliesslich wird ihm noch aufgetragen, einen Geistlichen herbeizuschaffen. Er spiegelt diesem in der Verkleidung eines Engels vor, er wolle ihn ins Himmelreich tragen, und bringt ihn dann in einem Sack zum Richter. –

Im norwegischen Märchen (Asbj. 34 »Mestertyven« S. 157 ff.) stiehlt der Bursche, der den Räubern seine Kunst beweisen soll, einen Ochsen durch einen einzelnen Schuh, den er dem Ochsentreiber zweimal in den Weg stellt. Des zweiten Ochsen, den der Bauer nun zu Markte treibt, bemächtigt er sich auf die gleiche Weise wie im isländischen Märchen, d.h. er hängt sich mehrere Male am Wege des Bauern auf, so dass dieser schliesslich den Ochsen im Stich lässt, um nachzusehen, wie die Sache sich verhält. Nachdem er noch einen dritten Ochsen durch List dem gleichen Bauern abgestohlen hat, verlässt er die Räuber und kehrt zu seinem Vater zurück. Er will nun um die Tochter des Amtmanns freien, soll diesem aber zuvor Beweise seiner Diebeskunst ablegen. Er stiehlt also auf Befehl des Amtmanns zuerst den Braten vom Spiess, bringt hierauf den Pfarrer in einem Sack in den Gänsestall, bemächtigt sich der zwölf sorgfältig bewachten Pferde des Amtmanns, stiehlt dann dem Amtmann selbst das eigene Reitpferd und schliesslich das Betttuch des Ehebetts und das Hemd der Frau Amtmann. Nach diesen Probestücken wird die Hochzeit gefeiert. –[371]

Der færöische Meisterdieb (Fær. 26 »Meistartjóvurin« S. 341 ff.) soll auf Befehl des Königs einen Schinken vom Speicher und ein Pferd aus dem Stalle stehlen, hierauf den Pfarrer und den Küster zu ihm bringen.

Bei Cosquin (70 »Le franc voleur« II S. 271 ff.) stiehlt der gelernte Dieb auf Verlangen des Herrn dessen Pferd und dessen sechs Kühe. Dann soll er es fertig bringen, dass der Onkel des Herrn, ein Geistlicher, bald stirbt, damit der Herr ihn beerben kann. Den Geistlichen lockt er, wie es in all diesen Märchen der Meisterdieb zu tun pflegt, in einen Sack, hier in diesem Märchen allerdings nur mit dem Kopf. Dann lässt er ihn »auf dem Weg zum Paradiese« so oft den Glockenturm hinauf und hinunter steigen, dass der arme Alte nach drei Tagen das Zeitliche segnet.

In dem norddeutschen Märchen (Kuhn und Schwartz 19, »Der Meisterdieb« S. 362 ff.) will ein gelernter Dieb einem ungläubigen Nachbar seine Kunst beweisen. Er stiehlt also zuerst durch mehrmaliges Aufhängen die Ochsen, die von den Knechten des Nachbarn zum Holzberg geschickt werden, dann das Pferd aus dem Stalle und schliesslich Geld und ein Hemd der Frau aus dem Schlafzimmer des Ehepaares.

Ähnliche Aufgaben löst der Meisterdieb bei Grimm (192 II S. 307 ff.), dem von seinem Paten, dem Grafen, aufgetragen wird, das Pferd aus dem Stalle, das Betttuch aus dem Bette und den Trauring vom Finger der Gräfin zu nehmen. Der letzte Diebstahl ist dann wie gewöhnlich der Diebstahl von Pfarrer und Küster.

Die etwas indezente Weise, wie der Dieb des Betttuchs sich bemächtigt, ist dem isländischen Märchen eigentümlich, ebenso auch der Umstand, dass der König dem Dieb die Aufgabe stellt, ihn samt der Königin in der Nacht zu stehlen. Die Einleitung des isländischen Märchens kann ich bei keiner der parallelen Erzählungen nachweisen. In einem færöischen Märchen, das sonst zu einer andern Märchenfamilie gehört (Fær. 23 »Skálkurin« S. 332 ff.), findet sich ähnlich wie in unserm Märchen vom Meisterdiebe die Episode, dass ein armer Mann mit seiner einzigen Kuh einen Knecht vom Galgen loskauft. Dieser stiehlt nun immer Ochsen vom reichen[372] Nachbar, so dass sie von nun an fortwährend gut zu leben haben.

Bei der Besprechung des gälischen, venetianischen und slavischen Märchens vom Meisterdiebe (Kl. Schr. S. 256, 307, 415) gibt Köhler weitere Literaturnachweise zu diesem Märchen. Ferner sind die Anmerkungen Asbjörnsens, Grimms und Cosquins noch zu vergleichen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 367-373.
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