XXX. Die Königskinder im Baume.

[129] Árn. II S. 326–32. Von Jón Sigurðsson auf Gautlönd niedergeschrieben.


Ein König hat zwei Kinder, Sigurður und Lineik. Nach dem Tode seiner Frau geht sein Minister auf die Brautschau und bringt von einer einsamen Insel eine schöne Frau, Blávör mit ihrer Tochter Laufey, heim. Bald nach der Heirat entdeckt der König die Bosheit der neuen Gattin. Wie er nun einstmals auf Reisen muss, um von seinen Ländern die Steuern zu erheben, geht er vorher zu seinen Kindern, die in einem Hause für sich leben. Er teilt ihnen mit, dass er fürchte, von dieser Reise nicht mehr heimzukommen. Wenn sie die Hoffnung auf seine Rückkehr verloren hätten, dann sollten Sigurður und Lineik aus dem Reiche in östlicher Richtung fortgehen, bis sie an einen hohen und steilen Felsen kämen. Ihn müssten sie ersteigen und an der andern Seite wieder hinunter wandern zu dem Ende eines langen Fjords. Hier würden sie zwei innen hohle Bäume finden, einen grünen und einen roten. In diese sollten sie sich begeben und sie wieder schliessen – dann könne kein Unheil sie treffen. – Die trübe Ahnung des Königs erfüllt sich, er ertrinkt mit all seinen Leuten gleich bei der Ausfahrt. In derselben Nacht träumt Sigurður, dass sein Vater in nassen Kleidern zu ihm komme und schweigend die Krone zu seinen Füssen niederlege. Gleich am andern Tage machen sich nun die Geschwister heimlich auf den Weg. Wie sie bis zum Felsen gekommen sind, sehen sie sich von der Stiefmutter verfolgt. Sie zünden nun den Wald an, der noch zwischen ihnen liegt, und entkommen in dieser Zeit über den Felsen. – – –

Der Sohn des Königs von Griechenland hatte so viel von der Schönheit und Tüchtigkeit der Königstochter Lineik gehört, dass er um sie zu freien beschloss. Wie er nun in dieser Absicht ins Königreich kommt, führt ihm die Königin Blávör ihre Tochter Laufey zu und behauptet, dies sei die Königstochter. Das Brautpaar segelt nun fort. Wie sie noch nicht weit vom Lande sind, überfällt sie dichter Nebel. Sie geraten in der Irre in einen Fjord hinein, an dessen Ende zwei schöne[130] Bäume stehen, ein grüner und ein roter. Dem Königssohne gefallen diese Bäume so gut, dass er sie abhauen lässt und mitnimmt, daheim sogar ihnen in seiner Schlafkammer einen Platz anweist. Seine Braut hält sich hier auch den Tag hindurch auf, während sie nachts mit der Schwester des Prinzen im Frauenhause schläft. Der Bräutigam bringt nun der vermeintlichen Lineik blaue, rote und grüne Stoffe, die sie für ihn und für sich zu Brautkleidern verarbeiten soll. Sowie sie allein ist, fängt Laufey bitterlich an zu weinen. Denn sie hat bei Blávör, die sich als ihre Mutter ausgab, die sie aber in Wahrheit aus einem Königreiche gestohlen hatte, nie weibliche Arbeiten gelernt. Endlich jammert Sigurður in seinem Baume die Verzweiflung des Mädchens. Er sagt zu seiner Schwester:


»Lineik systir,

Laufey grætur.

Bættu um borða,

Ef betur þér lætur.«


»Schwester Lineik,

Laufey weint.

Mache du die Stickereien,

Wenn du es besser kannst.«


Darauf antwortet Lineik:


»Manstu ekki

Fjallið háva,

Brekkuna bröttu

Og bálið undir?«


»Denkst du nicht

An den hohen Felsen,

Den steilen Abhang

Und darunter die Lohe?«


Auf die Bitten des Bruders steigt aber schliesslich die Schwester doch aus dem Baume und näht die ersten Kleider. So wiederholt sich der Vorgang dreimal. Wie die Königstochter am letzten Festgewande arbeitet, kommt unerwartet der Prinz heim, ehe Lineik in den Baum zurückschlüpfen kann. Er hält sie fest, sie muss erzählen, wie sich alles zugetragen hat, und dann heiraten die Geschwister Sohn und Tochter des Königs von Griechenland. Laufey wird ihr gezwungener Betrug vergeben, die böse Stiefmutter aber wird mit Krieg überwogen und getötet.

Das bei Árn. (II S. 332–34) folgende Märchen, das nach einer Erzählung aus der Dalasýsla niedergeschrieben wurde, ist eine Variante des vorhergehenden. Die beiden Königskinder heissen hier Ásmundur und Signý. Der Vater hatte[131] seinem Sohne draussen im Walde zwei Eichen geschenkt, und diese hatte er aushöhlen und als Zimmer einrichten lassen. Wie der Vater auf Seefahrt ist, stirbt die Mutter. Nach ihrem Tode verbergen sich die Geschwister mit Proviant in ihren Eichen. Ein Königssohn, namens Hringur, kommt in der Zwischenzeit als Freiwerber um Signý. Er trifft im Walde ein wunderschönes Mädchen, das sich für die Königstochter ausgibt. Ehe sie mit ihm fortsegelt, reisst sie die beiden Eichen aus, nimmt sie mit sich aufs Schiff und lässt sie im Lande des Bräutigams vor ihrem Frauenhause aufstellen. – Nachdem der Königssohn die Stoffe gebracht hat und fortgegangen ist, wird die Braut zur scheusslichen Riesin. Sie verzehrt mit ihrem Bruder Járnhaus eine grosse Kiste voll Menschenfleisch und benimmt sich über die ihr aufgetragene Arbeit so ungeberdig, dass schliesslich Signý die Kleider näht, nur um das Treiben nicht länger ansehen zu müssen. Ásmundur lässt den Königssohn die Braut in ihrer wahren Gestalt schauen, und nun wird die Unholdin in ihrem Turm verbrannt.

Ähnlich wie in unserm Märchen die Geschwister in hohle Bäume steigen, um vor den Nachstellungen der Stiefmutter geschützt zu sein, flüchtet sich bei Strap. (1. Nacht 4. Fabel S. 58 ff.) Doralice in einen Schrank, um zur Ehe mit ihrem Vater nicht gezwungen zu werden. Dieser Schrank kommt nach England in den Besitz des jungen Königs, der ihn in seinem Schlafzimmer aufstellen lässt Doralice, die während des Königs Abwesenheit ihren Schrank verlässt, um sein Zimmer hübsch aufzuräumen, oder auch um von den Speisen, die dem Herrscher gebracht wurden, etwas zu essen, wird eines. Tages von ihm entdeckt und darauf geheiratet.

Eine Erzählung ziemlich gleichen Inhalts liefert auch Cosquin in 28 »Le taureau d'or« S. 271 ff.

In einem griechischen Märchen (Schmidt 12 »Der Drache«, S. 93 ff.) entkommt die Königstochter gleichfalls einem Drachen auf die Weise, dass sie sich in einen Schrank einschliessen lässt. Dieser Schrank kommt nun in den Besitz ihres Geliebten, der durch den Kuss der Mutter die Braut vergessen hatte. Nach einigen Tagen wird das Mädchen von ihm entdeckt und geheiratet.[132]

Der Bruder der Riesin, der meist drei Köpfe hat und durch den Boden gewöhnlich ins Zimmer kommt, heisst in all den isländischen Märchen Járnhaus. Bemerkenswert ist, dass schon in einer der Íslendingasögur (Flóamannasaga) ein Wikinger, namens Járnhaus, eine ähnliche Rolle spielt, wie später manche Riesen in den Märchen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 129-133.
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