XLIV. Die Riesin im Steinboot.

[187] Árn. II S. 427–31. Aus Reykjavík.


Ein junges Königspaar, das längere Zeit bei den Eltern der Königin geweilt hatte, ist einst mit dem kleinen Sohne auf der Heimreise zum eigenen Königreiche. Unterwegs tritt auf einmal Windstille ein, so dass das Schiff längere Zeit nicht weiterkommt. Die ganze Mannschaft, die nun nichts zu tun hat, liegt unter Deck und schläft, nur das Königspaar ist mit dem Söhnchen noch auf dem Verdecke. Aber auch den König übermannt die Müdigkeit, so dass er gleichfalls hinuntergeht, um sich schlafen zu legen. Wie die Königin einsam auf dem Verdecke mit dem Kinde spielt, sieht sie in der Ferne einen schwarzen Fleck, der immer grösser wird. Endlich kommt er so nahe, dass sie einen Steinnachen mit einer einzigen Person in ihm erkennen kann. Er legt am Schiffe an, und eine furchtbare Riesin steigt auf das Verdeck. In all' dieser Zeit ist die Königin vor Entsetzen wie gelähmt. Sie kann kein Wort hervorbringen, noch sich rühren. Die Riesin geht auf die Königin zu, nimmt ihr den Knaben aus dem Arme und zieht ihr die Kleider bis auf das Unterzeug aus. Dann legt sie sich selber die königlichen Gewänder an, wodurch sie sogleich ein menschliches Aussehen bekommt. Nun setzt sie die hilflose Königin in den Steinnachen und spricht dabei: »Ich bestimme und bewirke, dass du weder in der Fahrt noch im Fluge nachlassest, bis du zu meinem Bruder in die Unterwelt kommst.« Hierauf fährt der Steinnachen mit der Königin fort und ist bald jedem Blicke entschwunden. Der kleine Knabe fängt jetzt an zu schreien. Die falsche Königin, die ihn nicht beruhigen kann, geht hinunter und weckt ihren Gemahl. Sie fährt ihn zum ersten Male in der Ehe mit rauhen Worten an, weil er sie mit dem unruhigen Knaben allein oben auf Deck gelassen und selber in Behagen geschlummert habe. Nun sei das beste Wetter zum Segeln, und es wäre Zeit, dass die Mannschaft an die Arbeit käme. Ein günstiger Wind bringt die Schiffe auch bald zum Königreiche. – Der kleine Königssohn, der früher immer so brav und ruhig gewesen war, hört jetzt in Gegenwart seiner Mutter nicht mehr auf zu schreien, so dass er[188] einer der Hofdamen zur Pflege übergeben wird. Hier wird er dann sogleich still und zufrieden. – – – Zwei junge Hofleute, die ihr Zimmer neben dem Zimmer der Königin haben, hören manchmal zu verschiedenen Tagesstunden drinnen so seltsames Geräusch. Neugierig halten sie einmal ihr Ohr an einen kleinen Spalt und vernehmen nun, wie die Königin sagt: »Wenn ich ein wenig gähne, bin ich ein zierliches, nettes Fräulein. Wenn ich mehr gähne, so bin ich eine Halbriesin, und wenn ich aus voller Kraft gähne, werde ich zur Riesin.« In diesem Augenblicke gähnt die Königin ganz furchtbar und wird zum scheusslichsten Riesenweibe. Ihr dreiköpfiger Bruder kommt durch den Boden mit einem Troge voll Fleisch herauf, das dann von der Königin gierig verschlungen wird. Wie die jungen Leute das sehen, wundern sie sich nicht länger darüber, dass die Königin bei der Hoftafel immer nur so kleine Bissen zu sich nimmt. In einem anderen Zimmer des Schlosses, in dem der kleine Prinz mit seiner Pflegemutter sich aufhält, spielt sich gleichfalls mehrere Male ein seltsamer Vorgang ab. Einige Bodendielen heben sich in die Höhe. Eine wunderschöne Frau, nur im Leinenhemde und gefesselt mit einem Eisengürtel, an dem eine schwere Gliederkette herunterhängt, taucht auf. Sie geht zur Pflegerin, nimmt ihr das Kind ab, liebkost es und gibt es dann zurück. Hierauf verschwindet sie auf dem gleichen Wege. Am folgenden Tage wiederholt sich der gleiche Vorgang. Nur sagt die Frau, ehe sie verschwindet, mit trauriger Stimme: »vorüber sind zwei, jetzt bleibt nur noch einer«. – Die Hofdame, die keinen Rat weiss, geht zum Könige und erzählt ihm alles. Am dritten Tage setzt dieser sich zur Pflegemutter des Sohnes ins Zimmer, das blanke Schwert auf dem Knie. Wie die Frau auftaucht, erkennt er in ihr seine Gemahlin. Kurz entschlossen haut er die Kette durch, an der sie gefesselt ist. Im gleichen Augenblicke kommt ein solcher Donner und so heftiges Erdbeben, als wenn das Schloss einzustürzen drohte. Dann wird alles still. Nun fallen König und Königin einander in die Arme, und sie erzählt ihm jetzt von all' ihren Erlebnissen. Der schreckliche Riese, zu welchem der Steinnachen sie brachte, hatte sie durchaus heiraten wollen. Schliesslich habe sie es ihm gelobt,[189] wenn sie vorher drei Tage hintereinander ihr Söhnchen im Schlosse besuchen dürfe. Durch das unerwartete Zerbrechen der Kette sei der Riese jedenfalls nun getötet worden, denn nur so sei das Erdbeben erklärlich. – – – Die falsche Königin wird nun sogleich auch entlarvt und dem verdienten Tode übergeben. Die beiden jungen Hofleute erzählen dann dem Könige, was sie im Zimmer seiner Gemahlin gesehen und gehört hatten. – – – –

Ebenso wie hier im Märchen nimmt auch die Riesin Mjaðveigs (»der verlorene Goldschuh«) Aussehen an, nachdem sie die Königin ihrer Kleider beraubte. Dort kommt die von dem Riesen gefangen gehaltene Mutter aber nicht zu ihrem Kinde, sondern sie taucht nur in einem Glassaale aus dem Meere empor. Der eigene Gatte befreit sie dann auch nicht, sondern der Hirte des Königs durchschlägt die Kette. Von diesen Unterschieden abgesehen, stimmen sonst diese beiden Erzählungen völlig überein.

Wir haben hier eine etwas unklare Überlieferung von dem Märchen der verfolgten Stieftochter, die nach ihrer Niederkunft von der bösen Stiefmutter getötet oder sonstwie entfernt wird, um die eigene hässliche Tochter an ihre Stelle zu setzen. Die bei Seite geschaffte junge Mutter erscheint dann vielfach dreimal noch bei ihrem Kinde, meist um es selbst zu stillen, bis endlich bei ihrem letzten Besuche der Gatte sie erlöst, entweder indem er ihr wie hier die Kette durchschlägt, oder indem er ihr in ihrer Verzauberung den Kopf abhaut usw. Dieses Märchen findet sich in verschiedenen Sammlungen, z.B. Grimm (11 »Brüderchen und Schwesterchen« I S. 42 ff.), Kreutzwald (»Rôugatajas Tochter« S. 203 ff.), Gonz. (48 »Von Sabedda und ihrem Brüderchen« S. 315 ff.) usw. – – – –

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 187-190.
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