LI. Das Märchen von der schönen Sesselja.

[216] Bjarn. S. 58–72. Nach der Erzählung von V. Gunnarsdóttir, Hnifsdal.


Ein König trauert lange über den Tod seiner Gattin und erklärt, nur eine Jungfrau heiraten zu wollen, die ebenso schön wie die Verstorbene wäre und ihr gleiche. Eines Tages sieht er nun seine junge Tochter Sesselja im Festgewande der Mutter, und da diese noch schöner ist, wie die Gattin einst war, will er sie heiraten. Sesselja flieht nun aus dem Reiche des Vaters, nachdem sie auf den Rat ihrer Pflegemutter ihre Harfe mitgenommen hat, in der sie das festliche Gewand verbarg. In einem fremden Königreiche sucht sie Aufnahme bei armen Leuten und lässt sich als deren Tochter ausgeben, damit ihr Vater sie nicht noch entdecke. Hier hütet sie nun in Lumpen gekleidet und den Kopf mit einer Kappe bedeckt drei Jahre hindurch die Schafe. Eines Tages nimmt sie zum Viehhüten ihre Harfe mit, und wie sie sich unbeachtet weiss, kleidet sie sich in ihr Festgewand, lässt ihr langes Haar herunter und schlägt dann die Harfe. Durch die Musik angelockt kommen zu ihr die Leute der Königstochter, die von dieser immer ausgesandt werden, um alle schönen Jungfrauen, die sie finden können, zu ihr in ihren Turm als Dienerinnen zu bringen. Diese Königstochter heisst auch Sesselja, aber weil sie in ihrem Stolze alle Freier zurückwies, mit dem Beinamen »die Hochmütige«. Die vermeintliche Bauerntochter kommt nun an den Hof der Prinzessin und steht bald bei ihr in hohem Ansehen. Wie einst die beiden Namensschwestern spazieren gehen, hören sie, dass tief in einer Schlucht ein Vogel jämmerliche Töne ausstösst. Um ihm zu helfen, lassen die Jungfrauen ihr Haar herunter. Da das Haar der schönen Sesselja länger wie das ihrer Herrin ist, erreicht es schliesslich den Vogel, der an ihm nun aus der Schlucht herausgezogen wird. Die Prinzessin ist über den Vogel so entzückt, dass sie ihn mit sich in ihr Schlafzimmer nimmt. Am folgenden Morgen ist jedoch das Tier verschwunden. Doch in der Nacht, die der Vogel in der Kammer zubrachte, träumte der Prinzessin ein wundersamer Traum, nach einigen Tagen wird ihr so sonderbar zu Mute, und wie sie das Gold, das der Vater ihr einst gab, und das[217] nur bei der Berührung reiner Jungfrauen seinen Glanz behält, schwarz wird, so weiss die Königstochter, dass sie ohne alle eigene Schuld schwanger ist. Sie hat nun Angst vor dem Vater, der von Zeit zu Zeit das Gold bei ihr ansieht, und der dann gleich alles entdecken und ihren Aussagen natürlich nicht glauben wird. Ihre Dienerin Sesselja hilft ihr, indem sie jedes mal beim Vorzeigen des Goldes unbemerkt ihre Hand über die Hand der Königstochter legt. Auch für die Niederkunft weiss die treue Dienerin Rat. Sie gibt vor, dass die Prinzessin krank sei und nur von ihrer Namensschwester sich pflegen lassen wolle. Nachdem sie dann einen Knaben geboren und sich wieder erholt hat, legt sich Sesselja, die Dienerin, ins Bett und behauptet, dass der Knabe ihr Kind sei. Um der Freundschaft willen, die die Königstochter für sie hegt, wird ihr dann schliesslich der vermeintliche Fehltritt verziehen. – – Nach vier Jahren kommt ein reicher, schöner Prinz als Freier um Sesselja, die Hochmütige. Gern wird er nun von ihr angenommen. Wie sie einst auf die Frage ihres Verlobten diesem das wunderbare Gold zeigen soll, kann sie es nicht finden und glaubt, dass eine der Dienerinnen es gestohlen habe. Unter Sesseljas Sachen wird nun das Gold gefunden, freilich nicht das vermisste, sondern das Gold, das die Prinzessin ihrer treuen Dienerin einst zum Lohne gegeben hatte. Die Königstochter lässt ihr jedoch gar keine Zeit, die Sache aufzuklären, sondern jagt sie als Diebin mit Schimpf und Schande samt ihrem Kinde fort. Am nächsten Tage kommt auf Veranlassung seiner vermeintlichen Mutter der Knabe zur Hochzeitstafel, stellt sich vor die Braut und fragt diese dreimal mit lauter Stimme: »Was gabst du meiner Mutter, als ihr Haar länger wie deins war?« Er wird mit Scheltworten fortgeschickt. Am anderen Tage stellt er eine ähnliche Frage und am dritten Tage fragt er: »Was gabst du meiner Mutter dafür, dass sie sich als meine Mutter ausgab?« – In der Wut will die Braut sich an dem Kinde vergreifen. Der Bräutigam schützt es jedoch und besteht darauf, diese Sache untersuchen zu wollen. Aus der Bauernhütte wird nun auch Sesselja geholt, und jeder soll jetzt seine Lebensgeschichte erzählen. Der Prinz sagt, dass seine böse Stiefmutter ihn in einen Vogel verzaubert habe.[218] Nicht eher habe er erlöst werden können, bis eine Königstochter ihr Leben um ihn wage und ihn dann eine Nacht in ihrem Schlafzimmer behalten würde. Nach seiner Entzauberung habe er seinen Vater aus den Klauen der Stiefmutter befreit, und nun sei er gekommen, um zum Dank seine Retterin zu heiraten. Da Sesselja die Hochmütige auch jetzt sich noch zu keinem Geständnis herablassen will, muss ihre schöne Namensschwester ihre Schicksale berichten. Zum Lohne ihrer Treue heiratet sie der Prinz und kehrt mit ihr und dem Knaben in seine Heimat zurück. Die hochmütige und undankbare Königstochter hatte zur Schande aber auch noch den Spott. Zu diesem Märchen weiss ich keine Parallelen anzuführen. Im Beginn erinnert es an »Allerleirauh« und die diesen verwandten Erzählungen. – Mit der Tugendprobe sind die Versuche des Vaters in der »guten Stiefmutter« zu vergleichen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 216-219.
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