XXIX. Ingibjörg, die Königstochter.

[238] Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reiche, und dieselben hatten keine Kinder. Sie sehnten sich jedoch sehr, solche zu haben.

Eines Tages ging die Königin spazieren, und es lag viel frischgefallener, lockerer Schnee auf der Erde. Da blutete sie stark aus der Nase und sie wünschte sich, daß sie eine Tochter bekommen möchte, die so schön sei, wie das Blut und der Schnee zusammen zu schauen seien.

Bei dem Könige war auch ein Knecht, der Surtur hieß. Dieser hörte die Worte der Königin und fügte zu ihrem Wunsche die Worte hinzu:

»Und Du mögest tödtlichen Haß auf sie werfen.«

Nun verging die Zeit, und es ereignete sich nichts, was der Erzählung werth wäre.

Eines Tages aber fand die Königin, daß sie guter Hoffnung sei. Als die Stunde ihrer Niederkunft herannahte, bat sie ihren Mann auf das Inständigste, das Kind, so wie es geboren wäre, tödten zu lassen.

»Das soll Dir niemals gewährt werden«, entgegnete der König.

Die Königin gebar nun das Kind und es war ein reizend schönes Mädchen, welchem der Namen Ingibjörg gegeben wurde.

Der König ließ für das Kind ein eigenes Haus erbauen, gab demselben eine Pflegefrau und übertrug dieser die Aufziehung des Mädchens. Dies mißfiel der Königin sehr.

Ingibjörg wuchs auf und wurde so schön, daß die Leute nie Ihresgleichen gesehen hatten. Eines Tages wurde die Königin krank und sie fühlte, daß es mit ihr zu Ende gehen[239] werde. Da ließ sie ihre Tochter zu sich rufen und flüsterte derselben etwas in's Ohr, was niemand hörte.

Hierauf starb die Königin; sie wurde in einen Grabhügel gelegt und der König saß lange auf demselben und trauerte um sie. Ingibjörg ging in ihr Haus und hörte nie auf zu weinen.

Nicht weit von dem Königreiche war eine Insel; auf dieser wohnte ein Jarl, welcher eine Tochter hatte, die Hildur hieß. Nachdem der König lange um seine verstorbene Königin getrauert hatte, freite er um die Tochter dieses Jarls, erhielt sie auch und feierte in seiner Halle Hochzeit mit ihr, wobei es viel Pracht und Lustbarkeit gab. Ingibjörg jedoch nahm nicht daran theil; sie saß in ihrem Hause und weinte.

Eines Tages begab sich die junge Königin nach dem Hause der Ingibjörg, klopfte an die Thüre und bat die Königstochter ihr aufzuschließen. Dies that dieselbe auch.

Die Königin bat nun Ingibjörg, sie möchte mit ihr in den Wald hinaus gehen, um sich zu erlustigen. Die Königstochter wollte Anfangs nichts davon hören; als aber ihre Stiefmutter nicht abließ, sie zu nöthigen und in sie zu dringen, gab sie endlich nach und sie gingen zusammen in den Wald.

»Nun bitte ich Dich«, sagte die Königin, »mir zu sagen, was Dir so nahe geht und Dir so großen Kummer verursacht.«

Ingibjörg wollte ihr dies durchaus nicht mittheilen, so oft die Königin auch ihre Bitten wiederholte.

Endlich kamen sie zu einem großen Fluß. Da sagte die Königin:

»Wenn Du mir nicht sagst, warum Du immer weinst, stürze ich Dich in diesen Fluß.«

Ingibjörg wählte lieber das Leben und erzählte der Königin, ihre Mutter habe den Fluch auf sie gelegt, daß sie im väterlichen Hause ein Kind bekommen, einen Mann tödten und das Schloß ihres Vaters niederbrennen solle.[240]

»Lasse dies nicht Deinen Sinn bedrücken«, sagte die Königin, »ich werde Dir schon aus diesen Nöthen helfen. Sag dem Knechte Surtur, Du habest heute eine schöne Pflanze auf den Meeresklippen gesehen, und bitte ihn, Dir dieselbe zu holen. Sowie er dann so hoch auf die Klippen gekommen ist, daß er nimmer höher kommen kann, laß das Seil aus, mit dem Du ihn hinaufgezogen hast, so daß er in's Meer fällt.«

Ingibjörg befolgte diesen Rath und tödtete Surtur auf diese Weise. Hierauf ging sie wieder heim in ihr Haus.

Als die Königin einmal mit dem Könige zu sprechen kam, sagte sie:

»Du sitzest immer ganz ruhig in Deiner Burg, König, und gehst nie in den Wald hinaus, um Dich zu erlustigen, wie es die anderen Könige thun.«

Der König sagte, er wolle gern in den Wald hinaus gehen, wenn sie es wünsche, und ritt auch eines Tages mit allen seinen Hofleuten dahin.

Die Königin theilte nun Ingibjörg ihr Vorhaben mit, ließ ihr helfen, alle werthvollen Gegenstände aus dem Schlosse zu tragen, und legte dann Feuer an dasselbe. Hierauf gab sie ihr ein Bündel und sagte ihr, sie solle dasselbe in den Wald hinaus rollen lassen; es werde bei der Thüre einer Hütte liegen bleiben, und wenn sie dahin komme, müsse sie darauf achten, daß sie den Bewohner dieser Hütte früher sehe als er sie. »Merke Dir aber, fuhr die Königin fort, wenn Du von mir träumst, sollst Du, so schnell Du nur kannst, zu mir kommen.«

Ingibjörg ging in den Wald und kam endlich zu der Hütte; sie betrat dieselbe und stellte sich hinter die Thür.

Nachdem eine gute Weile vergangen war, kam in großer Riese in die Hütte; er trug einen Bären auf dem Rücken und warf denselben auf den Boden. Da erblickte er Ingibjörg; diese aber hatte ihn schon früher gesehen.[241]

Ingibjörg bat den Riesen im Namen ihrer Stiefmutter, daß er ihr erlauben möchte, einige Tage hier zuzubringen.

Der Riese erlaubte es ihr und forderte sie auf, weiter in die Hütte hinein zu kommen.

Sie sah nun ein großes, aufgemachtes Bett und ein anderes kleineres unter demselben; dieses war kreisrund.

Der Riese fragte, ob sie lieber bei ihm oder bei seinem Hunde schlafen wolle.

Sie zog es vor, bei dem Hunde zu schlafen.

Ingibjörg blieb mehrere Tage in dieser Hütte. Einmal erwachte sie des Nachts und hörte ein starkes Gedröhn, welches so schrecklich war, daß man glauben konnte, die Erde berste auseinander.

Hierauf sah sie ein großes Ungeheuer in Menschengestalt in die Hütte kommen; dasselbe trug eine Haube aus den Schenkeltheilen einer Ochsenhaut, Hosen aus Pferdehaut, eine Weste aus der Haut des Eishais und eine Reitjacke. Sein Kopf war abscheulich-häßlich geformt; er hatte eine krumme und schiefe Nase, kohlschwarzes Haar und eine ebensolche Haut. Der Mund war ganz schief und ein großer Zahn ragte aus demselben hervor.

Von diesem abscheulichen Anblicke ward Ingibjörg so erschreckt, daß sie in das Bett des Riesen hinaufsprang. Hierauf schlief sie wieder ein und träumte nun von der Königin; da weckte sie der Riese. Sie verließ sogleich die Hütte, um so schnell als möglich zu dem Königsschlosse zu kommen.

Als sie dahin kam, sah sie die Königin in einem seidenen Hemde auf einem großen Scheiterhaufen sitzen. Da eilte sie auf den Scheiterhaufen zu, stieß einige Knechte auf denselben, nahm hierauf die Königin bei der Hand und führte sie in das Schloß.

Sie machte ihrem Vater harte Vorstellungen und sagte, er habe es der Königin übel gelohnt, daß sie ihr aus den Nöthen[242] habe helfen wollen, in welche sie der Zauber ihrer Mutter gebracht hätte.

Der König sagte, daß er dies nicht gewußt, sondern vielmehr geglaubt habe, daß die Königin ihn sammt dem Schlosse habe verbrennen wollen.

Es verging nun einige Zeit, bis die Leute zu bemerken glaubten, daß Ingibjörg unter dem Gürtel dicker werde.

Eines Tages kam ein prächtig gekleideter Mann auf einem rothen Pferde zum Schlosse geritten. Derselbe warb um Ingibjörg's Hand und erhielt dieselbe auch zugesagt, worauf mit großer Pracht ihre Hochzeit gefeiert wurde.

Kurze Zeit darauf gebar Ingibjörg ein Kind, und sie wußte nun, daß ihr Mann der Vater dieses Kindes und der Riese aus der Hütte sei, welcher dort in der Verzauberung gelebt hatte und der Bruder der Königin war.

Sie liebten einander bis in ihr hohes Alter und erhielten nach dem Tode des Königs dessen Reich und alle Reichthümer.

Quelle:
Poestion, Jos. Cal.: Isländische Märchen. Wien: Carl Gerolds Sohn, 1884, S. 238-243.
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