16. Das Pfeifchen.
(Il zufolotto.)

[30] Einmal war ein Hirtenknabe, der trug fröhlichen Sinn und lebte mit seinen Ziegen im grünen Walde und auf den luftigen Höhen, ohne dass er sich etwas Besseres wünschen mochte.

Eines Tages fand er im Walde zwei Frauen, welche schliefen. Da die Sonne heiss auf sie schien, schnitt er Zweige ab und machte ein grünes Dach über sie, dass sie nun im Schatten lagen. Bald darauf erwachten sie und verwunderten sich nicht wenig; »ei«, sagten sie, »wer hat uns doch das grüne Häuschen hergebaut?« Der Knabe trat hinzu und sagte: »Ich hab's gethan.« Da lobten sie ihn und die Eine sagte: »Jetzt darfst du von mir etwas verlangen und du sollst es bekommen.« Da erwiederte der Knabe: »So gib mir ein Pfeifchen, welches, wenn ich blase, alle tanzen macht, die es hören.« Die Frau gab es ihm. Dann sagte die zweite: »Ich will dir auch[30] etwas schenken; was willst du?« Der Knabe antwortete: »So gib mir ein Gewehr, mit dem ich ohne Pulver und Schrott alle Vögel treffe, welche ich in der Luft sehe!« Da gab sie ihm das Gewehr, er dankte und sprang mit seinen zwei herrlichen Geschenken lustig fort.

Das war jetzt ein Leben! Wenn er so im Walde blies, tanzten die Geise lustig um ihn herum und die Hasen in den Gebüschen und die Eichhörnchen auf den Bäumen und sogar die Füchse in den Höhlen kamen auch und tanzten, als ob sie alle närrisch geworden wären. Und wenn ein Raubvogel in den Lüften schwebte oder ein garstiger Rabe krächzte, nahm er sein Gewehr und schoss sie herab; den lieben Singvögelein aber that er nichts zu Leide und liess sie singen und hüpfen, so viel sie wollten.

Einmal ging ein Geistlicher durch den Wald; da hatte der Knabe gerade einen Vogel geschossen, welcher auf eine Stelle voll Dornengebüsch niedergefallen war. Der Geistliche ging hin und wollte den Vogel heraus holen. Da fing der Knabe an auf seinem Pfeifchen zu blasen und der arme Mann musste im Dorngestrüppe tanzen, bis er ganz zerrissen und voll Blut war. Er ging zu Gerichte und verklagte den Hirten. Das Gericht schickte Schergen aus, den Knaben zu ergreifen; aber als sie ihm näher kamen, fing er an zu blasen und sie mussten tanzen, bis der Knabe aufhörte und sie vor Müdigkeit kaum mehr aufrecht stehen konnten. So machte er es jedes Mal, wenn sie ihn fangen wollten. Einmal aber überfielen sie ihn unversehens, entrissen ihm das Pfeifchen und führten ihn gebunden in den Kerker.

Nun wurde über ihn grosses Gericht gehalten und die Richter sprachen das Urtheil aus, dass er am Galgen sterben sollte. Als er zum Galgen geführt worden war und schon darunter stund, bat er, man möge ihm noch eine letzte Bitte und Gnade gewähren. Man gestand es ihm zu und er bat, dass man ihm noch einmal sein Pfeifchen in die Hand geben möchte. Als er es bekommen hatte, fing er sogleich zu blasen an. Da begann der Henker, welcher schon den Strick in der Hand hatte, lustig zu tanzen und die Richter und die Schergen und die Zuschauer tanzten auch alle, bis sie sterbensmüde waren. So entkam der Knabe leicht und liess sich kein zweites Mal mehr fangen.

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 30-31.
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