[97] 18. Die Taube mit den goldenen Federn

Eine arme Familie hatte einmal nichts mehr zu essen. Da sagte der Vater zur Mutter: »Jetzt heißt es arbeiten!« Und so ging er hinaus und bestellte den Acker. Als er dann ermüdet unter einem Baume eingeschlafen war, kam eine Taube in weiten Kreisen näher und näher geflogen und legte ein Ei in seine Tasche, ohne daß er es merkte. –

Seine Frau, die sehr neugierig war und, während er schlief, immer die Taschen ihres Mannes untersuchte und ausleerte, nahm das Ei stillschweigend an sich. Das wiederholte sich fünfmal. – Dann aber konnte sie ihre Neugierde nicht länger bezwingen und sprach zu ihm: »Sage mir, von wem hast du diese wunderschönen Eier? Doch nicht gar von einer Frau?«

»Ich verstehe nicht, was du da sagst. Ich habe doch niemals Eier mit nach Hause gebracht«, behauptete der gute Mann.

Da zeigte sie ihm die Eier und riet ihm, sich das nächste Mal nur schlafend zu stellen, um zu sehen, woher sie kämen.[97]

Das tat er und sah eine glänzende Taube mit goldenen Federn in weitem Bogen zu sich herabschweben und ein Ei in seine Tasche legen.

Am nächsten Tage ließ die durchtriebene Frau mit einem Sacknetze die Taube fangen, die, von ihr gut genährt, nun sogar goldene Eier mit Diamanten legte. Die Goldschmiede des Landes waren nicht reich genug, diese Eier zu kaufen. Der Mann mußte nach Spanien reisen, wo es damals die ersten Goldschmiede in der Welt gab. Aber bevor er abreiste, mußte seine Frau schwören, seine drei Söhne und die Taube gut zu betreuen. –

Als er abgereist war, kamen die drei Verehrer der Frau und streichelten die Taube, die ihnen einen Zettel mit folgenden, in goldenen Buchstaben erglänzenden Worten übergab:

»Wer mein Herz ißt, wird König, wenn er volljährig ist; wer meinen Magen ißt, wird stets Geld haben, wenn er volljährig ist; wer meine Leber ißt, wird Wahrsager, wenn er volljährig ist.«

Da forderten die Verehrer den Tod der Taube, um diese kostbaren Leckerbissen zu genießen. Aber erst nach längerer Weigerung lud die schlaue Patronin die Schmarotzer ein, die Taube mit ihr zu verspeisen, nachdem sie die inneren Teile ihren drei Knaben zu essen gegeben: das Herz dem Albert, ihrem Ältesten, den Magen dem Cäcilio, dem Zweiten, und die Leber dem Leopold, dem Jüngsten. –

Nun verlangten die Schurken den Tod der Knaben. Nach langem Widerstreben erfüllte die ruchlose Mutter auch dieses Verlangen und gebot einem Diener, die Kinder im Walde zu töten. Der brave Mann aber hatte Mitleid mit ihnen und ließ sie unversehrt laufen. Als Zeichen ihrer angeblichen Ermordung wurde der Mutter von jedem nur der abgeschnittene kleine Finger der linken Hand überbracht. –[98]

Gemeinsam wanderten nun die Brüder in die Fremde, bis sie an eine Stelle kamen, wo die Straße sich nach drei Richtungen hin teilte. »Jetzt müssen wir uns trennen«, sprach Albert und schlug die Mittelstraße ein. Er gelangte zum Hause eines Tischlers und sah ihm beim Arbeiten zu. »Wohin des Weges?« fragte dieser. – »Das weiß ich nicht«, erwiderte der Knabe. »Ich hoffe nur, irgendwo Unterkunft zu finden. Ich will auch gern dafür arbeiten!«

»Hast du nicht Vater und Mutter zu Hause?« – »Ich habe Vater und Mutter verloren«, antwortete der Kleine leise und traurig. – »Hast du Lust, Tischler zu werden?« – »Mit Vergnügen!« rief Albert und blieb bei dem guten Meister, bis er das einundzwanzigste Jahr erreicht hatte. Dann ließ er sich jedoch nicht länger halten, dankte seinem Wohltäter herzlich und begab sich auf die Wanderschaft. Und nach mancherlei merkwürdigen Erlebnissen wurde er König. –

Cäcilio wandte sich rechts und geriet zu einem Barbier, dessen Handwerk er lernte. Als er einundzwanzig Jahre alt war, fand die Meisterin jeden Tag Geld in seinem Bette. Sie nahm es weg, ohne dem Gesellen etwas zu sagen. Eines Tages aber bemerkte er das Geld frühmorgens unter dem Kopfkissen; doch rührte er's nicht an, weil er vermutete, die Meisterin hätte es hingelegt, seine Ehrlichkeit zu prüfen. Am Abend war kein Geld mehr vorhanden, aber am Morgen fand er wieder die gleiche Summe, die er nun selbst an sich nahm, wie dann auch jeden folgenden Tag. –

Sobald er reich genug zu sein glaubte, machte er sich auf den Weg, seine Freiheit zu genießen. Er kam jedoch nicht weit; ein großes Wirtshaus verlockte ihn zum Bleiben. Hier führte er ein lustiges Verschwenderleben. Wenn ihm auch das Geld einmal ausging, so fand er doch stets neues im Bette.[99]

Da dachte die Wirtin, die eine sehr schlechte Frau war: »Es ist doch merkwürdig. Andere Fremde bleiben gewöhnlich nur einige Tage oder höchstens eine Woche und reisen ab, sobald sie nicht mehr bei Kasse sind. Vielleicht hat er den Magen der goldenen Taube verschluckt. Um sich dieses Magnets zu bemächtigen, muß man den Zauberspiegel anwenden.« Der Versuch hatte den gewünschten Erfolg, und sie kam in den Besitz des ersehnten Taubenmagens. – Wie nun der Bursche bald kein Geld mehr hatte, wurde ihm der Laufpaß gegeben. Und als er freiwillig nicht fortwollte, stieß man ihn so gewaltsam zur Tür hinaus, daß er die hohe Treppe hinunterstürzte und in zwei große Nägel fiel, wodurch er das Augenlicht verlor und als blinder Bettler, wie sein Name ihn richtig bezeichnete, vor der Tür sitzend die Vorübergehenden um Almosen anflehen mußte. –

Da kam ein großer Vogel und sprach zu ihm: »Armer Cäcilio, wie traurig du nun bist!« Dann ließ er einen Pfiff ertönen, und im Nu flogen viele, viele Vöglein herbei. »Kommt, kommt!« gebot der große Vogel, »laßt uns einen schönen Gesang anstimmen, um das Herz des armen Cäcilio zu erheitern!« Und die kleinen Sänger stimmten einen herrlichen Trostgesang an.

Dann führte der große Vogel den Blinden zu einem großen Pfirsichbaum, der voller Früchte hing, obgleich es im Winter war. »Schüttle den Baum und biete die Früchte, die jetzt die einzigen sind, auf der Straße feil, daß deine gierige Wirtin sie sieht!« rief der fürsorgliche Vogel.

Da eilte die naschhafte Frau auch gleich herbei und genoß soviel Pfirsiche, daß ihr ganz übel davon wurde und sie den Taubenmagen, den sie verzehrt hatte, vollständig wieder von[100] sich gab, den Cäcilio nun durch den Vogel zurückerhielt, um fortan von Geldsorgen befreit zu bleiben. –

Der jüngste der Brüder, der links abgegangen war, hatte bei einem Landmann Aufnahme gefunden und im Garten und auf dem Felde gearbeitet. Als er großjährig geworden, machte er sich als Wahrsager auf, seine Brüder zu suchen. Zuerst ging er zum König.

Er kam gerade zu rechter Zeit; denn Majestät hatte soeben ein gutes Mittagsschläfchen gehalten und sonderbarerweise von seinen Brüdern geträumt. Daher fühlte er auch das Bedürfnis, sich mit einem schicksalskundigen Weisen zu unterhalten. Er erzählte ihm seinen Traum und fragte, was er bedeute. »Ein baldiges Wiedersehen«, antwortete der Wahrsager. – »Aber ich habe nie wieder von ihnen gehört und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Wie würde ich mich freuen, sie wiederzusehen«, beteuerte der König.

»Darf ich ihre Namen erfahren?« fragte weiter der Weise. »Cäcilio und Leopold. Besonders an den kleinen Leopold denke ich oft voller Sorgen. Wie mag's ihm wohl gehen?« – »Ich glaube, ganz gut«, lachte der Gefragte; denn er wußte jetzt, daß er Bruder Albert vor sich hatte. Um aber ganz sicher zu gehen, bat er den König noch, ihm zum Prophezeien seine linke Hand zeigen zu wollen, die er auffällig in der Tasche verbarg.

»Da fehlt ja der kleine Finger! Woher kommt das? Wie seltsam, gerade wie bei mir. Schau her!« jubelte Leopold, der nun vollkommen überzeugt war, seinen ältesten Bruder vor sich zu sehen, der ihn staunend und fragend betrachtete. »Ja, Bruderherz, dein Leopold steht vor dir!« In langer, inniger Umarmung hielten die Brüder sich umschlungen.

Bald fand Leopold auch den unglücklichen Cäcilio, dessen[101] treuer Führer er wurde. Und am Gelde mangelte es ihnen ja nie mehr.

Als nun die drei Brüder wieder beisammen waren, ließ der König ihre Eltern erscheinen. Der gute Vater, der selbst so viel Schlimmes von seiner bösen Frau zu erdulden gehabt hatte, wurde in Ehren gehalten. Die grausame Mutter aber wurde bis zum Kopfe mit einer Mauer umschlossen, damit alle Vorübergehenden ihr ins Gesicht spien! –

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 97-102.
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