[31] 5. Die siebenköpfige Schlange

In einem weit, weit entfernten Lande zeigte sich in längst entschwundenen Tagen eine ungeheure Schlange. Die hatte sieben Köpfe und wog wohl über acht Zentner. Sie beunruhigte rings das Land und verschlang Menschen und Tiere, die ihr in den Weg kamen. Da wurde sie in einen Wald eingeschlossen. Aber jeden Tag mußte ihr ein Jüngling oder eine Jungfrau, die durch das Los bestimmt wurden, geopfert werden.

Eines Tages wurde die Tochter des Königs von diesem grausamen Schicksal ereilt. Bei den verschlossenen Türen der Bürgerhäuser mußte sie unbekleidet die Stadt verlassen und wurde draußen an einen Baum gebunden.

Da erscheint unerwartet ein Fremder. Kaum hat er den Grund der allgemeinen Trauer erfahren, so verschafft er sich Roß und Schwert, jagt hinaus in den Wald, befreit die edle Jungfrau, und läßt sie, mit seinem Mantel bedeckt, in die Stadt zurückbringen. Er selbst aber verbleibt, um das Ungeheuer zu töten. – Das schien aber unmöglich; denn jeder Kopf, den er abgehauen, wuchs sofort wieder an. Da warf er die Köpfe seinem Hunde zu, der sie unter einen Baum trug, wo der Held sie nach siegreich beendigtem Kampfe begrub, zuvor aber noch ihre Zungen abschnitt und bei sich behielt. Darauf begab er sich zum[31] König, der seine Tochter dem Befreier als Belohnung zugesagt hatte.

Im selben Augenblick sprang aber ein Räuber, der heimlich alles beobachtet hatte, aus seinem Versteck hervor, nahm die Köpfe, lief zum König und spielte sich als Retter auf. Der König wußte nun nicht, wem er glauben sollte. Da bat ihn der wahre Befreier, dem Räuber zu befehlen, auch die Zungen der Schlangen zu zeigen, was natürlich der Drachentöter selbst nur vermochte, der nun als Wohltäter des Landes und Gemahl der Königstochter gefeiert ward.

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 31-32.
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