[44] 8. Die Schwester der zwölf Räuber

Ein Witwer, der eine sehr schöne Tochter hatte, heiratete eine Witwe, die schöner sein wollte als die Tochter, und es bald dahin brachte, daß diese aus dem Hause mußte.

Als ihr Vater sie eines Tages mit in den Wald nahm und sie ermüdet einmal ausruhen wollte, ließ er sie zurück, um unsern Bäume zu fällen, wie er vorgab. Am Feierabend werde er sie abholen. Sie möge nur unbesorgt warten. Sie werde ihn ja arbeiten hören. Und um sie zu täuschen, hing er seine leere Kürbisflasche an einen Baum, wo sie im Winde nun immerzu gegen den Stamm schlug, als ob in der Nähe kräftige Arthiebe ertönten.

Da aber der armen Verlassenen endlich die Zeit lang wurde und auf ihr lautes Rufen nach dem Vater keine Antwort erfolgte, machte sie sich auf, ihn zu suchen.

Nach langem Umherirren geriet sie auf einen verborgenen Pfad und gelangte zum Eingang einer im Gebüsch versteckten[44] verödeten Burg. Furchtlos trat sie ein. In einem großen, von zwölf Gemächern umgebenen Saale stand ein Tisch mit zwölf Gedecken. An Tätigkeit gewöhnt, begann sie sogleich, alles in Ordnung zu bringen und das Abendessen vorzurichten. Doch erschrak sie gewaltig, als sie plötzlich zwölf Räuber aus dem Walde nahen sah. Sie konnte sich kaum noch verstecken. Nicht weniger erstaunten die Freibeuter, die hier brüderlich hausten, über die schon erledigten häuslichen Geschäfte, deren saubere Ausführung nur von einer weiblichen Hand herrühren konnte. Wo aber war sie? Jeder Winkel wurde durchforscht, bis endlich unter einem Reisighaufen, an den einer zufällig stieß, das ängstliche Mädchen zum Vorschein kam. – »Gott sei Dank!« riefen die Brüder erfreut, »nun haben wir eine Schwester, unseren Haushalt zu führen!« – Und den besorgte sie nun auch gern und hatte es nicht zu bereuen. Sie wurde jederzeit sehr freundlich behandelt und dazu auch reichlich beschenkt, und durfte schalten und walten, wie's ihr beliebte. Nur in den Wald gehen sollte sie nie und keine Hausierer hereinlassen.

Allein die böse Stiefmutter, die von allem, was sich zutrug, Kunde erhielt, trachtete ihr nach dem Leben. Durch eine alte Handelsfrau schickte sie ihr einen vergifteten Kamm in den Wald, in den sich das unvorsichtige Mädchen trotz des strengen Verbotes der Brüder gerade einmal herausgewagt hatte.

»Ei, guten Tag, mein schönes Kind! Gewiß seid Ihr das Burgfräulein, dessen Schönheit weithin gerühmt wird. Ihr seid wohl sehr reich. Was tragt Ihr für kostbare Ohrgehänge und Ringe! Wie müßte Euer Goldhaar der herrliche Kamm schmücken, den ich hier habe! Den müßt Ihr kaufen. Dann seid Ihr die Schönste im ganzen Lande. Erlaubt einmal!« Und indem sie das sagte, drückte sie ihr den Kamm so heftig ins Haar, daß Blut hervorquoll und das unglückliche Mädchen alsbald[45] verzaubert in einen so tiefen Schlaf verfiel, daß die guten Brüder, die sie am Wege hingestreckt vorfanden, sie für tot hielten. Sie waren aufrichtig betrübt und vergossen bittere Tränen. In einen Marmorschrein legten sie den Leichnam mit allen Goldgeschmeiden und Diamanten, die sie der »Schwester« aus Dankbarkeit verehrt hatten. Dann trugen sie den Sarg in den Wald, und unter einem großen Baume begruben sie ihn. –

Als nicht lange darnach der Sohn des Königs eine große Jagd abhielt und ein Hund unter dem Baume zu scharren und zu bellen begann, eilte der Prinz herbei, die seltene Beute, die ihm das Jagdglück hier unerwartet bescheren mochte, zu schauen. Wer beschreibt jedoch sein Erstaunen, wie er den schimmernden Marmor erblickte! »Ein römisches Denkmal!« rief er begeistert und stieß vor Freude mächtig ins Hifthorn, daß alle die hohen Weidgenossen, Prinzen und Herzöge, Grafen und Barone, sogleich herbeistürzten. Wohl oder übel mußten sie sich bequemen, den kostbaren »antiken Sarkophag behutsam« auszugraben und nach dem Königspalaste zu tragen. Wie sauer es ihnen aber auch wurde, stellten sie sich doch alle hochgeehrt und beglückt. Nur leise spotteten sie boshaft: »Der Prinz ist verrückt!«

Doch verstummten sie bald, als der Sarg in Gegenwart des Königs, der Königin und des gesamten Hofstaates geöffnet wurde und anstatt zerfallener menschlicher Überreste eine wunderschöne Jungfrau darin lag. Ihr schneeweißes Gewand strahlte von köstlichem Goldschmuck und Edelgestein, und wie aus Marmor gemeißelt, mit leuchtenden tiefschwarzen Augen, glänzte ihr rosiges Antlitz, von lichtblonden Haarwellen umflossen, die fast bis zu den Füßen hinabreichten. So lag sie regungslos da, doch ohne jede Spur von Verwesung, als ob sie nur schliefe. »Welch[46] eine Schönheit!« rief die Königin aus. »Fast scheint es, sie lebt noch. Ich will mich davon überzeugen. Hebt sie bedachtsam aus dem Sarge, und setzt sie hier auf den Stuhl!«

Wahrhaftig, es glückte! Keine Totenstarre im schmiegsamen Körper, an dem die Glieder nur schlaff herabhingen. Und wie die Königin nun des Mädchens schönes, langes Haar streichelte und dabei der vergiftete Kamm herausfiel, erwachte die Schöne aus ihrem todartigen Schlafe. –

Ein großes Freudenfest wurde hierauf im Königspalaste gefeiert, und nachdem die Gefeierte ihre seltsame Lebensgeschichte erzählt und dadurch das Herz des Prinzen gewonnen hatte, wurde sie seine Gemahlin. Ihre bösen Eltern aber wurden zu lebenslänglicher Kerkerstrafe verurteilt, während die guten zwölf Brüder, die sie im Walde behütet hatten, zur Belohnung vom König in den Adelstand erhoben und zu Herzögen, Grafen und Rittern ernannt wurden. –

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 44-47.
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