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[57] Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten zwei Töchter, eine schöner als die andere. Eine von ihnen hielt sich immer beim Herd auf, darum nannte man sie das Aschenbrödel. Ihre Mutter machte sich nichts aus ihr und schickte sie jeden Morgen mit ein paar Enten hinaus und gab ihr ein Pfund Hanf zum Spinnen mit.
Eines Morgens war sie mit den Enten zu einem Graben gekommen und schickt sie ins Wasser und sagt zu ihnen:
Enten, Enten, geht zum trinken,
Ist es trüb, sollt ihr nicht trinken,
Ist es helle, trinkt, und schnelle!
Kaum hat sie das gesagt, so sieht sie eine Alte vor sich. – »Was tust du hier?« sagt die Alte. – »Ich habe diese Enten hinausgeführt und soll dies Pfund Hanf spinnen.« – »Warum läßt man gerade dich das alles tun?« – »Meine Mutter will es.« – »Schickt sie nicht auch deine Schwester einmal mit den Enten hinaus?« – »Niemals.« – »Hier, liebes Kind! Ich will dir was schenken. Nimm diesen Kamm und versuche, dich damit zu kämmen.« – Sie gab ihr einen Kamm, und Aschenbrödel kämmte sich, zuerst auf einer Seite, und während sie es tat, rollten ihr aus den Haaren Körner in Menge, und die Enten fraßen davon bis zum Platzen. Dann kämmte sie sich auf der andern Seite, und von da rollten Brillanten und Rubinen herunter. Dann zieht die Alte eine Schachtel heraus, gibt sie ihr und sagt: »Nimm sie und tue die Brillanten und Rubinen hinein, trage sie nach Hause und verbirg sie gut in deiner Lade!« – »Jetzt aber habe ich den Hanf zu spinnen,« sagte das Mädchen. – »Mach dir keine Sorgen, das ist meine Sache.« – Damit tut sie einen Schlag mit[58] einer Gerte, die sie in der Hand hatte, und sagt: »Ich befehle, der Hanf soll gesponnen sein –« und im Handumdrehn war's geschehn. – »Jetzt geh nach Haus,« sagte die Alte, »und komm jeden Morgen wieder hieher, du wirst mich finden.«
Aschenbrödel ging nach Hause und sagte nichts und saß immer im Winkel am Herde. Jeden Morgen ging sie wieder nach jenem Ort, fand dort die Alte, die ließ sie kämmen und spann ihr den Hanf. Eines Morgens, nachdem der Hanf gesponnen war, sagte ihr die Alte: »Höre! Heute abend gibt der Sohn des Königs einen Ball und hat deinen Vater, deine Mutter und deine Schwester eingeladen. Dich aber werden sie zum Spaß fragen, ob du mitkommen willst, du sage aber, du wollest nicht. Sieh dies Vögelchen! Verbirg es in deiner Kammer, und heute abend, wenn die an dern fortgegangen sind, geh zu dem Vögelchen und sprich:
Vöglein, Vöglein, her und hin,
Mach mich schöner, als ich bin!
Und du wirst sehen: auf einmal hast du Ballkleider an. Und nimm auch diese Gerte, tu einen Schlag damit, und ein Wagen wird erscheinen. Dann fahre auf den Ball, und niemand wird dich erkennen, und der Sohn des Königs wird mit dir tanzen. Du aber sieh dich vor! Wenn sie in den Saal gehn, sich zu erfrischen, laß den Wagen kommen und fahre weg, damit niemand sieht, wohin du fährst. Dann aber kehre zu deinem Vogel zurück und sprich:
Vöglein, Vöglein, her und hin,
Mach mich garst'ger, als ich bin!
und du wirst wieder werden wie vorher. Setz dich wieder in deinen Winkel am Herdfeuer und sage nichts.«
Das Mädchen nahm das Vögelchen, trug es nach Hause und verbarg es in ihrer Lade. Wirklich sagte, als sie sie zurückgekehrt sah, die Mutter zu ihr: »Höre, der Sohn des Königs hat uns zum Ball geladen; möchtest du mitkommen?« – »Ich habe keine[59] Lust,« antwortete sie. »Amüsiert ihr euch nur, ich bleibe zu Hause.« Am Abend gingen sie und ließen sie bei dem Aschenherd. Kaum waren sie fort, geht sie zu dem Vögelchen und tut alles, was die Alte ihr gesagt hatte, und als sie auf dem Ball war, tanzte der Sohn des Königs mit ihr und verliebte sich in sie, aber sobald die Stunde der Erfrischungen kommt, steigt sie in den Wagen und fort, nach Hause. Der Prinz, der sie nicht mehr sah, läßt sie überall suchen, sie wurde aber nicht gefunden, und niemand wußte, wer sie war und wo sie wohnte. In der Hoffnung, daß sie wenigstens wiederkommen würde, sagte der Sohn des Königs allen Geladenen, ehe sie sich verabschiedeten, auf morgen abend lade er sie zu einem anderen Feste.
Papa, Mama und Schwester kommen nach Hause und finden Aschenbrödel im Herdwinkel. »Es war ein prachtvolles Fest,« erzählte ihr die Mutter, »und eine Dame war da, eine wahre Schönheit, und man wußte nicht, wer sie war. Wenn du gesehen hättest, wie schön sie war!« – »Mir liegt nichts dran,« erwidert[60] Aschenbrödel. – »Sieh,« sagt die Mutter, »morgen findet ein anderes Fest statt. Da könntest auch du kommen.« – »Nein, nein. Ich bleibe hier im Winkel beim Feuer, da befind' ich mich gut.«
Am andern Morgen geht sie mit den Enten wie gewöhnlich hinaus und findet die Alte. »Wie ist's gegangen?« fragt diese. – »Gut ist's gegangen.« – »Heute abend geh wieder hin und mach es, wie du's gestern gemacht hast. Aber gib acht! Du wirst sehen, daß sie dir folgen, wenn du gehst. Dann tu einen Schlag mit der Gerte und befiehl: Geld! Das Geld nimm dann und wirf es aus dem Wagen. Die Leute werden stehen bleiben, es aufzusammeln, und dich aus den Augen verlieren.«
Wirklich, als der Abend kam, gingen Vater, Mutter und Schwester auf den Ball und ließen sie zu Hause. Das Vögelchen ließ sie noch schöner werden als das erstemal, sie fuhr hin, und der Sohn des Königs, hocherfreut, als er sie sah, tanzte mit ihr und hatte der Dienerschaft Auftrag gegeben, sie im Auge zu behalten. In der Tat, als sie zur Stunde der Erfrischungen in den Wagen stieg, beeilten sich die Diener, ihr nachzulaufen. Sie aber warf eine Menge Geld aus, und die andern machten sich daran, es aufzulesen, und verloren sie aus dem Gesicht.
Der Prinz, ganz verzweifelt, beschloß, am andern Tage einen dritten Ball zu geben.
Als sie heimkam, sagte die Mutter zu Aschenbrödel, morgen werde wieder ein Fest stattfinden, davon aber wollte die Tochter nichts wissen und stellte sich gleichgültig. Am Morgen geht sie mit den Enten aus und begegnet der Alten. – »Bis jetzt ist es gut gegangen. Aber gib acht, heute abend wirst du ein Kleid mit goldenen Glöckchen anhaben und goldene Schuhe. Du wirst sehen, sie laufen dir wieder nach. Dann wirf ihnen einen Schuh und Geld hin. Jetzt aber werden sie entdecken, wohin du fährst.«
Wirklich, als sie abends im Hause allein blieb, ließ ihr das Vögelchen ein prächtiges Kleid mit lauter goldenen Glöckchen[61] bringen und für die Füße goldene Schuhe, die ein Wunder waren. Der Prinz tanzte mit ihr und wurde immer verliebter. Als sie fortging, um sich in ihren Wagen zu setzen, eilten ihr die Diener von weitem nach. Sie stieg ein und fuhr fort, und die Diener hinterdrein. Sie aber wirft einen Schuh hinaus und Geld. Die Diener aber hatten vom König gehört, bei Todesstrafe müßten sie entdecken, wo diese Dame wohnte. So achteten sie nicht auf das Geld. Einer hob den Pantoffel auf, und sie liefen so rasch, daß sie endlich sahen, wo der Wagen anhielt. Sie sagten es dem Könige und brachten ihm den Schuh, und der König gab ihnen eine große Belohnung.
Am anderen Morgen geht das Mädchen mit den Enten hinaus und trifft die Alte, und diese sagt ihr: »Heute morgen mußt du dich sputen, denn der Königssohn wird kommen, dich zu holen.« – Und zugleich gibt sie ihr den Kamm und die Schachtel und spinnt ihr den Hanf und schickt sie nach Hause. Kaum sieht sie die Mutter, sagte diese: »Warum kommst du heute so früh zurück?« – »Seht nur die Enten, wie satt sie sind,« antwortete sie, und die Mutter sieht die Enten, die in der Tat satt waren, und schwieg. Mittags kommt der Königssohn zu Wagen. Er klopft, sie sehen, wer es ist, und alle laufen hinunter, außer dem Aschenbrödel. Die geht zu dem Vögelchen und spricht zu ihm:
Vöglein, Vöglein, her und hin,
Mach mich schöner, als ich bin!
Und das Vögelchen läßt ihr wieder das Kleid mit den goldenen Glöckchen und den goldenen Schuh kommen, doch nur einen. Indessen fragt der Fürst ihren Vater: »Wieviel Töchter habt Ihr?« – »Eine einzige, diese hier.« – »Wie? Habt Ihr nicht noch andere?« – »Ja, Majestät, ich habe noch eine, aber ich schäme mich – sie sitzt immer im Herdwinkel und ist voll Asche.« – »Sei sie, wie sie wolle, geht und ruft sie!«
Da rief sie der Vater: »He, Aschenbrödel, komm ein bischen herunter!« – Sie tut es, und bei jedem Schritt auf der Stiege[62] machen die Glöckchen dolin, dolin! »Seht das einfältige Ding!« sagte die Mutter, »da schleift sie sich Schaufel und Feuerzange nach!« – Kaum aber erschien sie in ihrem Putz, daß es eine Pracht war, blieben alle ganz sprachlos. Der Fürst aber sagte: »Das ist die, die ich suche, und nichts fehlt ihr, als ein goldener Schuh; laßt sehn, ob es dieser vielleicht ist« – und zog den goldenen Schuh aus der Tasche und gab ihn Aschenbrödel, die ganz rot wurde und ihn an ihren Fuß tat und zeigte, daß er wirklich der ihre war. Da begehrte sie der Sohn des Königs zur Frau, und die Eltern konnten nicht nein sagen. Das Aschenbrödel nahm das Vögelchen mit und alle Kleinodien, die sie von der kleinen Alten erhalten hatte, und ging mit dem Königssohn. Sie feierten eine prächtige Hochzeit, und Vater, Mutter und Schwester beschenkte sie reich und behandelte sie so gut, als wenn sie immer gut zu ihr gewesen wären.
(Pisa)
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