45. Von den falschen Messias.

[197] Ein Freidenker spottete einmal in Gegenwart des heiligen Rabbi Levi-Jizchok über die Tannaïm und sagte, daß selbst Rabbi Akiba den Aufrührer Bar-Kochba für den Messias gehalten und ihm seine Kleider nachgetragen habe. Der Rabbi erzählte darauf folgendes Gleichnis:

»Es war einmal ein Kaiser. Er hatte einen einzigen Sohn, den er wie seinen Augapfel liebte. Dieser Sohn aß einmal von einer nicht ganz frischen Speise und wurde gefährlich krank. Man berief zu ihm die berühmtesten Ärzte, doch keiner konnte ihm helfen. Schließlich berief man ein Konsilium von den größten Ärzten und Gelehrten. Einer von diesen meinte, daß man den Kranken nackt in ein mit einer sehr scharfen Salbe eingeschmiertes Laken einhüllen müsse; wenn er so eine ganze Nacht läge, würde die Salbe die Keime der Krankheit aus seinem Körper ausziehen. Ein zweiter Arzt wandte ein, daß der Kranke die großen Schmerzen, die die Salbe verursacht, nicht aushalten können werde, denn er sei zu sehr geschwächt. Ein dritter Arzt schlug vor, die Salbe des ersten Arztes anzuwenden, dem Kranken aber zuvor einen Schlaftrunk zu geben, damit er die ganze Nacht schlafe und die Schmerzen nicht spüre. Ein vierter Arzt bemerkte, daß der Kranke ein schwaches Herz habe und daß ihm daher ein Schlaftrunk gefährlich werden könne. Den besten Rat gab der fünfte Arzt, welcher sagte, daß das Laken mit der scharfen Salbe und der Schlaftrunk vortreffliche[198] Mittel seien; nur solle man den Schlaftrunk nicht auf einmal, sondern in kleinen Dosen geben: der Kranke würde einschlafen, nach zwei Stunden aufwachen und vor großen Schmerzen schreien; dann solle man ihm wieder etwas vom Schlaftrunk geben, so daß er wieder zwei Stunden lang schlafen würde. Und so solle man es die ganze Nacht machen. Man folgte diesem Rate, und der Kranke wurde gesund.

Als der Herr der Welt sah, daß die Seele seines geliebten Volkes Israel gefährlich erkrankte und alle Arzneien, die ihm die heiligen Ärzte gaben, nicht mehr halfen, berief er die himmlischen Heerscharen zu einem Konsilium. Auf diesem Konsilium wurde beschlossen, die Juden in die Finsternis der Verbannung zu werfen; da aber das Herz des Volkes zu schwach war, um alle die Marter und Verfolgungen auszuhalten, wurde gleichzeitig verordnet, das Volk einzuschläfern und alle zwei – drei Stunden durch den Posaunenstoß eines falschen Messias aufzuwecken, um es dann wieder einzuschläfern. Und so wird es gemacht werden, bis die ganze Nacht der Verbannung abläuft und der wahre Messias erscheint. Darum wer den auch die Augen der größten heiligen Männer, wie die des Rabbi Akiba zuweilen geblendet, damit sie sich irren und einen falschen Messias für einen wahren ansehen.«

Quelle:
Eliasberg, Alexander: Sagen polnischer Juden. München: Georg Müller, 1916, S. 197-199.
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