Es sach de mentides.
Der Lügensack.
(Lluchmajó.)

[137] Es war ein sehr reicher Herr, der eine wunderschöne Tochter hatte, und gerade vor seinem Hause stand eine sehr grosse Pinie, die ihm die Aussicht verdeckte und diese war sehr schwer zu entfernen.

Der Herr liess einen Ausruf machen,[137] dass derjenige, der die Pinie entfernen könnte, seine Tochter heirathen dürfe.

Ein Mann aus einem benachbarten Dorfe erfuhr davon, machte sich auf den Weg nach dem Hause jenes Herrn und nahm zwei Brode mit sich, um sie unterwegs zu verzehren.

Er ging und immer weiter gehend, fand er eine Schlange und die Schlange sagte zu ihm:

– Wo geht's hin?

– Er sagte: zu diesem Platze und für das und das.

– Nun, gebet mir euer halbes Brod und es wird euch besser gehen.

– Ich weiss zwar nicht, ob es weit oder nahe ist, aber nimms, und er gab ihr das halbe Brod.

Er begann weiterzugehen und weiter[138] immer weiter gehend, fand er ein Regiment Ameisen, welche zu ihm sagten:

– Wo geht's hin?

Er sagte dahin und für das und das.

– Nun, gebet uns ein halbes Brod und es wird euch besser gehen.

– Ich weiss nicht, ob es weit oder ob es nah ist, wohin ich gehen will, aber nehmt es, ich werde es schon sehen und er gab ihnen das halbe Brod.

Er ging weiter, immer weiter, und weiterhin fand er einen Falken.

– Wo geht's hin? frug der Falke.

– Er sagte: dahin und für das und das.

– Nun, gebet mir ein halbes Brod und es wird euch besser gehen.

– Ich weiss nicht, ob es weit ist, oder nah und für mich ist nur noch ein[139] Brod übrig geblieben, indessen, nehmt die Hälfte davon.

Nun kam er zu dem Hause jenes Herrn, bat um die Werkzeuge, um die Pinie zu fällen und begann zu arbeiten.

Die Tochter jenes Herrn hatte eine besondere Gabe, dass, wenn sie auf einen Schnitt oder einen Sprung ausspuckte, sich dieselbe sofort schloss und weil dieser Mann alt und hässlich war und sie ihn durchaus nicht wollte, ging sie hin, um in den Schnitt des Pinienstammes zu spucken, damit er sich wieder schliesse; aber die Schlange verhinderte es, sie entfloh aus Furcht und konnte nicht spucken, und der Baum war bald gefällt.

Aber nun sagte ihm der Herr, dass das noch nicht genügend sei, dass,[140] wenn er sich mit seiner Tochter vermählen wolle, müsse er ihm dreihundert corteres (Maass) gemischte Saat am selben Abend ausscheiden und am folgenden Morgen müsse er ihm getrennt die hundert Maass Weizen, die hundert Maass Xexa (eine feinere Weizensorte) und die hundert Maass Gerste bringen.

Jener Mann sah, dass er dies nicht zu thun im Stande war, aber er sagte ja, und das Regiment Ameisen kam und in einem Augenblick hatten sie es geschieden.

Aber der Herr wollte ihm seine Tochter noch nicht geben und gab ihm dreizehn Hähne und sagte ihm, wenn er sie nach einem Jahr und einem Tag noch besitze, dann dürfe er sie heirathen.[141]

Er ging mit den dreizehn Hähnen fort nach seinem Hause und nach einigen Wochen kam die Magd jenes Herrn zu ihm, um zu fragen, ob er ihr einen Hahn verkaufen wolle.

Er sagte ihr, dass er keinen verkäuflich habe, aber sie bat ihn so lange, bis er endlich ihr versprach, dass er ihr einen verkaufe, wenn sie am Abend mit ihm zu Abend essen wolle. Sie sagte ihm ja, und als sie gegessen hatten, gab er ihr den Hahn und sie ging weg.

Indessen kam es, als sie unterwegs war, dass der Falke, der von jenem Manne das halbe Brod verlangt hatte, ihr den Hahn abnahm und es seinem Eigenthümer zurückbrachte.

Nach mehreren Monaten ging die Tochter jenes Herrn zu ihm, aber[142] verkleidet, damit er sie nicht erkenne und fragte ihn, ob er ihr einen Hahn verkaufen wolle. Der Mann versprach es ihr, wenn sie am Abend mit ihm speisen wolle. Sie war es zufrieden und als sie zu Abend gegessen hatten, gab er ihr den Hahn und das junge Mädchen ging weg, aber der Falke nahm ihn unterwegs ihm ab und brachte ihn jenem Manne wieder zurück.

Nach einiger Zeit ging der Herr selbst hin, ebenfalls verkleidet und verlangte, dass er ihm einen Hahn verkaufe.

Er antwortete ihm bejahend, wenn er sich eine gute Tracht Prügel mit einem Stocke, um Karren vollzuladen, gefallen lasse.

Der Herr sagte ja und brachte den Hahn weg, aber mit einem sehr warmen Rücken.[143]

Unterwegs nahm ihn der Falke ihm wieder ab und brachte ihn dem Manne zurück.

Inzwischen waren das Jahr und der Tag vorüber und jener Mann ging mit den Hähnen nach dem Hause des Herrn, um sich mit seiner Tochter zu verheirathen.

Der Herr hatte eine Anzahl Knaben gemiethet, damit sie ihn erwarten sollten, und so wie sie ihn erblickten, ihm die Hähne mit Steinen bewerfen und sie ihm entfliehen liessen.

Er sah die Knaben von weitem und versteckte alle seine Hähne in einer Sandhöhle und setzte sich, um zu rauchen, auf die Mauer.

Als die Knaben bei ihm ankamen, fragten sie ihn:[144]

– Habet ihr einen Mann gesehen, der eine Hähnenheerde führt?

– Er sagte ja, ich habe ihn gesehen, weit oben.

Die Knaben liefen weg, er holte seine Hähnen und brachte sie alle zum Hause jenes Herrn.

Aber dieser wollte noch nicht zugeben, dass er sich mit seiner Tochter verheirathe und sagte ihm, dass, wenn er sie heirathen wolle, müsse er noch einen Sack mit Lügen anfüllen.

– Also sagte er, bringet mir einen Sack.

Sie brachten ihm den Sack und er frug die Magd.

– Saget, erzählet die Wahrheit, dass ihr mit mir eines Abends zu Abend gegessen habt.

– O, sagte sie, was für eine grosse Lüge![145]

– Er sagte: Also stecke sie in den Sack. Ei nun, sagte er zu dem Mädchen, erzähle wahrheitsgetreu, hast mit mir eines Abends zu Abend gegessen?

– Oh, sagte sie, welch grossartige Lüge.

– Er sagte: Also stecke sie in den Sack.

Dann wandte er sich zu dem Herrn und begann zu sagen:

– Nun sie – – –

– Schliesset den Sack, weil er schon voll ist, sagte sogleich der Herr zu ihm, ohne dass er ihn ausreden liess, weil er nicht wollte, dass sie erfahren sollten, dass er sich hatte prügeln lassen.

Und dann verheirathete sich jener Mann mit jenem ebenso reichen als schönen Mädchen. Und wenn sie nicht[146] lebend sind, sind sie todt; und wenn sie nicht todt sind, sind sie lebend.

Quelle:
Erzherzog Ludwig Salvator: Märchen aus Mallorca. Würzburg, Leipzig: Verlag der Kaiserlichen und Königlichen Hofbuchhandlung von Leo Woerl, 1896, S. 137-147.
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