[95] Es waren drei Brüder, welche weder Vater noch Mutter hatten.
Und ihr Vater war ohne Testament gestorben.
Sie beschlossen, zum König zu gehen, damit er unter sie die Güter vertheile, sie gingen hin und auf dem Wege ging der Erstgeborene voran, der zweite ging hinter dem ältesten und der jüngste hinter allen.
Sie fanden einen Mann, der eine Mauleselin suchte.
Er sagte zu dem Erstgeborenen:[95]
– Bruder, hast du eine Mauleselin gesehen?
Der Erstgeborene sagte:
– War sie einäugig?
– Ja.
– Alsdann habe ich sie nicht gesehen.
Indem er den zweiten fand, fragte er:
– Bruder, hast du eine Mauleselin gesehen?
Dieser sagte:
– War sie grau?
– Ja.
– Alsdann habe ich sie nicht gesehen.
Er fand den dritten.
Und sagte ihm:
– Bruder, hast du eine Mauleselin gesehen?[96]
– War sie hinkend?
– Ja.
– Alsdann habe ich sie nicht gesehen.
Dann frug er sie, wohin sie gingen, und sie sagten es ihm; und jener Mann eilte voran und ging zum Hause des Königs und erzählte hier, was ihm mit den drei Brüdern zugestossen war.
Als die Brüder beim Hause des Königs ankamen, baten sie ihn, dass er ihnen die Güter vertheile. Der König befahl einem Diener, dass er ihnen ein gutes Frühstück gebe und er solle ihm alles aufschreiben, was sie zusammen sprechen werden, während sie frühstücken.
Zum Frühstück wurde ihnen ein[97] gebratenes Ferkel und dazu Wein gebracht.
Der Jüngste sagte:
– Gut wäre dies Ferkel, wenn es nicht mit Lausmilch aufgezogen worden wäre.
Der zweite sagte:
– Gut wäre dieser Wein, wenn er nicht aus Setzlings-Trauben gemacht wäre.
Der Erstgeborene sagte:
– Schön wäre der König, wenn er nicht Bastard und Sohn eines Mauren wäre.
Jener Diener brachte das Aufgeschriebene dem König, und als er es gelesen hatte, liess er Jenen rufen, der ihm das Ferkel geschenkt hatte.
Der König sagte zu ihm:
– Wie zogst du jenes Ferkel auf?[98]
Der Mann sagte:
– Das Mutterschwein starb, und wir hatten eine kleine Hündin, die nährte es.
Sodann liess der König den Mann rufen, der ihm den Wein geschenkt hatte und fragte ihn:
– Woher ist dieser Wein?
– Er ist aus Setzlingstrauben.
Dann liess der König seine Mutter rufen und fragte sie:
– Wessen Sohn bin ich?
Sie sagt:
– Ei – deines Vaters Sohn.
Der König sagt:
– Und wer war mein Vater?
Seine Mutter sagt:
– Es war in einem Jahre, in welchem Krieg war, wir hielten uns[99] im Maurenland auf und du bist der Sohn eines Mauren.
Dann frug er die drei Brüder, zu ihnen sagend:
– Wie wusstest du, dass das Maulthier hinkend war?
Er sagte:
– Weil ich auf dem ganzen Wege nur drei Fussstapfen fand.
– Und wie wusstest du, dass es grau sei?
Er sagte:
– Weil ich einige Wälzplätze fand und es waren dort weisse und schwarze Haare.
– Und wie wusstest du, dass es einäugig war?
Er sagte:
– Weil beide Seiten mit Getreide[100] bewachsen waren und ich fand es nur auf einer Seite abgefressen.
Da sagte zu ihnen der König:
– Und jetzt frage ich euch, könnt ihr das Bild eueres Vaters auf ein Papier malen?
Sie bejahten es und malten ihren Vater.
Als sie ihn gemalt hatten gab er ihnen eine Pistole und sagte, dass Jeder von ihnen einen Schuss abfeuern solle und derjenige, der am besten treffen würde, sollte alle Güter erhalten.
Der Aelteste und der Zweite schossen darauf, der Letzte wollte nicht schiessen.
Der König sagte:
– Und du, warum schiessest du[101] nicht darauf, du siehst, dass das nicht dein Vater ist, sondern nur sein Bild.
Der Jüngste erwiderte:
– Das macht keinen Unterschied, ich will nicht darauf schiessen.
So viel der König auch bat, er wollte nicht auf seinen Vater schiessen und der König sagte zu ihm:
– Also die Güter gehören dir.
Sie kehrten alle drei nach Hause zurück und der Jüngste besass die Güter und die Erzählung ist schon zu Ende.
Buchempfehlung
»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge
276 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro