XXXIII. Das Stalomädchen.

[140] (Aus dem schwedischen Lappmarken.)


Es war einmal ein Ehepaar aus dem Stalogeschlecht, welches zwei Kinder hatte, einen Sohn und eine Tochter. Nun trug es sich zu, daß ein Mangel an Lebensmitteln eintrat, weshalb die Eltern daran dachten, eines von den Kindern zu schlachten und zu verzehren; nur konnten sie sich nicht darüber einigen, ob es der Sohn oder die Tochter sein sollte. Der Mann wollte den Sohn schonen und sagte deshalb zu der Frau:

»Im mon juoksa guoddejam! – Ich schlage meinen Bogenträger nicht todt!«

Die Frau dagegen wollte die Tochter geschont sehen und rief deshalb mit zorniger und kreischender Stimme:

»Im mon snaldo bådnjejam! – Ich schlage meine Spinnerin nicht todt!«

Die Tochter, welche vor der Thür stand und horchte, hörte diese Unterhaltung, sowie auch, daß schließlich die Mutter nachgeben mußte und sie selbst (die Tochter) dem Tode geweiht war. Sie ergriff daher die Flucht und kam zu einer Lappenhütte, wo man sie fragte, wer sie wäre und woher sie käme.

»Ach,« antwortete sie, »ich bin geflohen, um mir mein Leben zu retten; meine Eltern wollten mich auffressen! Möchtet[141] Ihr nicht so freundlich sein, mich als Wasserträgerin anzunehmen?« (Dies ist aber der niedrigste Dienst bei den Lappen.)

Sie gingen darauf ein. Das Stalomädchen verblieb bei ihnen und wurde späterhin die Frau des Sohnes vom Hause.

Nach einigen Jahren bekam Letzterer Lust, seine Schwiegereltern, die Stalofamilie, zu besuchen und zugleich zu erfahren, ob er nicht einige Mitgift erlangen könne. Seine Frau suchte ihm zwar von seinem Beginnen abzurathen, indem sie meinte, wenn er hinginge, würde er gewiß aufgefressen; allein er wollte nicht glauben, daß das Verlangen nach Menschenfleisch bei den Stalo's so groß wäre.

»Ich habe ja Renthiere,« sagte er, »und werde ihnen ein fettes Thier geben; so lange also das vorhält, brauchen sie uns nicht zu verzehren.«

»Doch, doch!« antwortete die Frau; »du wirst schon sehen wie es geht.«

So begaben sich denn die jungen Eheleute mit Sack und Pack nach der Wohnstätte Stalo's und hatten auch ihr kleines Kind, ein einjähriges Knäblein, bei sich. Sie wurden sehr freundlich empfangen, und der Lappe gab seinem Schwiegervater alsbald ein feistes Renthier, so daß es also an frischem Fleisch nicht mangelte. Auch die Schwiegermutter schien sich über die Angekommenen sehr zu freuen; sie nahm das Enkelchen aus der Wiege, küßte es und sprach:

»Liebe Tochter, ich kann wohl unterdeß das Kind halten, während Ihr das Zelt aufstellt?«

Die Tochter hatte freilich keine rechte Lust, ihrer Mutter das Kind anzuvertrauen, konnte jedoch nichts dagegen einwenden.

Ludak (das Staloweib), die Blutsaugerin, ging ohne Verzug in ihre Hütte, drehte dem Kinde den Hals um und fing an, es aufzufressen. Ein jüngerer, erst nach der Schwester Flucht geborener Sohn Stalo's, welcher dabei stand und seiner Mutter[142] zusah, bekam auch Lust, von dem Fleische, das sie verzehrte, zu kosten und verlangte welches zu wiederholten Malen.

»Ninnes, Ninnes, vadde munjen njeputjen tjalmatjest! – Mamma, Mamma, gib mir etwas von meines Schwestersohns Auge!«

»Morgen sollst du deiner Schwester Brüste zu kauen bekommen!« antwortete Ludak.

Die Tochter, welche draußen stand und horchte, stieß ihren Mann an und sagte:

»Glaubst du nun, was ich gesagt habe? Jetzt hat sie das Kind gefressen und morgen kommen wir an die Reihe.«

Indeß konnten sie für den Augenblick nichts thun. Als sie ihr Zelt aufgestellt und Alles in Ordnung gebracht hatten, kam Stalo und sein ältester Sohn zum Besuch, um den langen Winterabend mit Plaudern hinzubringen. Während man nun über Dies und Jenes schwatzte, fragte Stalo seinen Schwiegersohn gleichsam in aller Vertraulichkeit:

»Kåsses le tu kassamus naker? – Wann schläfst du am festesten?«

Der junge Lappe that, als merkte er nicht den eigentlichen Zweck dieser Frage, und antwortete ganz ruhig:

»Wenn die Morgenröthe sich zeigt, schlafe ich am Besten.«

Dann fragte er seinerseits den Schwiegervater:

»Wann schläfst du am Besten?«

»Kask ija pali! – Um Mitternacht!« antwortete Stalo.

Nachdem nun so Beide einander ausgefragt, schieden sie; Stalo und sein Sohn kehrten in ihre Hütte heim und die jungen Eheleute blieben im Zelte zurück. Um Mitternacht aber, wo Stalo im tiefsten Schlafe liegen sollte, standen sie auf und flohen in aller Stille auf demselben Wege, den sie gekommen waren. Der Mann zog voran mit der Renthierheerde, während die Frau eine Strecke weit von dem Zelte, welches sie hatten stehen lassen, zurückblieb, um zu sehen, was ihr Vater zur Zeit der[143] Morgenröthe vornehmen würde; auch hatte sie der Sicherheit wegen eine Stainak oder gelte Renthierkuh (eine solche wird nämlich für ganz besonders schnell und ausdauernd gehalten) vor ihren Schlitten gespannt und wartete nun so hinter einer großen Tanne, welche ihr Mann quer über den Weg geworfen hatte.

Als die Morgenröthe sich zeigte, kam Stalo mit seinem ältesten Sohne aus der Hütte, beide mit Spießen bewaffnet; sie eilten nach des Lappen Zelt und stachen an verschiedenen Stellen durch die Leinwand, da wo sie eben vermutheten, daß die Schläfer im tiefsten Schlafe lägen, wobei der Sohn noch jedes Mal hinzufügte:

»Ta le maga tjåkkai, ta le obba tjåkkai! – Das ging in des Schwagers Herz! – Das ging in der Schwester Herz!«

Bald nachher kam Ludak, die Blutsaugerin, mit einem Trog und rief:

»Alle, ti manatjak, mallatsid kålkåtallo! – Liebe Kinder, lasset das Blut nicht fortlaufen!«

Sie wollte wohl Würste daraus machen. Nun rief Stalo's Tochter hinter der Tanne hervor:

»Taste le ain obba tjåkke! – Hier ist noch der Schwester Herz!«

Da sagte Stalo:

»Na, juobe matav! – Das konnte ich mir wohl denken!« Worauf er und seine Frau der Tochter nachzulaufen anfingen.

Da sie aber bald merkten, daß sie die Stainak nimmer einholen würden, fing der Stalo an zu rufen:

»Warte, mein Kind, warte, mein Kind! Ich will dir einen Schatz als Mitgift in den Schlitten werfen; so warte doch, mein Kind!«

Nun hielt die Tochter das Renthier an und wartete, bis der Vater die Hände nach dem Schlitten ausstreckte; in dem nämlichen Augenblicke aber hieb sie ihm mit einer Axt, die sie[144] bei sich führte, die Finger ab und fuhr dann im gestreckten Lauf davon. Stalo wies die Stümpfe seiner Frau, welche nachgelaufen kam, und rief:

»Pånne, pånne kä! – Mutter, Mutter, sieh her!«

»Das konnte ich mir wohl denken, daß du nicht mit ihr fertig wirst«, antwortete Ludak; »ich will es selbst versuchen«.

Nun fing sie an nachzulaufen und zu rufen:

»Warte, warte, Tochter, ich habe hier einen raren Schatz, den du als Mitgift bekommen sollst; so warte doch nur ein Bischen!«

Die Tochter hielt wiederum an und wartete, bis die Alte den Schlitten anfaßte, dann aber hieb sie auch ihr mit der Axt die Finger von den Händen, so daß Schatz und Finger in den Schlitten fielen, worauf sie wieder das Renthier peitschte und im vollen Galop den Spuren der Herde nachjagte.

Lange aber hörte man noch Stalo und seine Frau hinterher rufen:

»Tjaske, tuona häppo, mo kadsa kaskosid! – Wirf die Fingerstümpfe zurück, du schamlose Höllenbrut!«

Dies war das Ende.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 140-145.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon