Der Stiefbruder.

[14] Es war einmal ein Vater, der hatte einen starken, furchtlosen Sohn. Auf der ihm gehörigen Weide gab's eine Stelle, wo's nicht geheuer war und sich schon viele fast zu Tode erschreckt hatten. Manche sahen dort Gespenster, andere hörten, namentlich wenn es gewitterte, ein banges Winseln und Stöhnen. Da kam es, daß eines Abends der Sohn auf den Weideplatz ritt, um dort die Nacht zu verbringen. Nachdem er die Pferde gekoppelt und ein Feuer angezündet hatte, machte er sich's im Grase bequem und begann zu singen:


»Wählte mir ein feines Liebchen,

Aber denk noch nicht an Hochzeit;

Bring die Maid drum ins Gerede,

Daß kein andrer mir sie nehm'.

Selber helf ich brav sie schmähen,

Rede dies und rede das –:

Und verborgen bleibt den Leuten,

Daß sie mein Feinsliebchen ist!«


Da trat Plötzlich ein Knabe in langem weißem Hemde, auf dem Kopf eine schwarze Mütze, ans Feuer, setzte sich dem Sänger gegenüber und wärmte sich. Der aber rief barsch: »Wer bist du und warum treibst du dich noch so spät hier herum?« Der Knabe erwiderte: »Schilt nicht, Brüderchen, ich thu' dir nichts Böses!« – »Warum nennst du mich Bruder?« – »Weil ich dein älterer Bruder bin.« – »Du bist ein Narr, aber nicht mein Bruder!« – »Nein, gewiß, ich bin dein Bruder.« – »Hebe dich fort, unreiner Geist!« –[15] »Sei nur still, ich will dir alles erzählen. Deine Mutter ist auch meine Mutter. Sie hat mich, als sie noch ledig war, geboren, aber, aus Furcht vor Schande getötet und unter eine Brücke geworfen. Dein Vater wußte davon nichts und heiratete sie. Also sind wir Brüder. Ich muß neun Jahre ruhelos umherirren und mich vor Pehrkon verstecken. Wenn diese Zeit abgelaufen, wird deine Mutter von Pehrkons Blitz erschlagen, meine Seele aber erlöst werden und zur Ruhe kommen. Morgen sind die neun Jahre um: ich darf mich nicht länger vor Pehrkon verbergen, deine Mutter aber muß sterben. Ich werde morgen ins linke Ohr deines Braunen kriechen und sobald Pehrkons Donnerschlag vom Himmel gekracht, wird sich all mein Leid in ein Büschel Heu verwandeln.« Darauf legte sich der Knabe nieder und schlief ein. Am Morgen aber war er verschwunden. Der Bruder trieb die Pferde zusammen und ritt auf seinem Braunen nach Hause. Unterwegs erhob sich ein furchtbares Wetter und Blitz auf Blitz fuhr zur Erde herab. Nach dem stärksten Schlage fiel aus dem linken Ohr des Braunen etwas in Gestalt eines Heubüschels und verbrannte. Als der Reiter aber das väterliche Anwesen erreicht hatte, sah er seine Mutter, vom Blitz getroffen, mitten im Hofe tot daliegen.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 14-16.
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