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Eine der merkwürdigsten Erscheinungen des litterarischen Lebens unserer Zeit ist in dem jüngst verstorbenen Victor von Andrejanoff dahingegangen. Ein Anwohner und geistiger Pionier jener westöstlichen Kulturgrenze in den Ostseeprovinzen Rußlands, wo das vordringende Jungrussentum auf uralten, festgewurzelten deutschen Geistesbesitz stößt und in den harten Widerhall dieses gewaltigen Zusammenpralles als verworrene Nebengeräusche die traumbefangenen Stimmen kleiner, erwachender Jugendvölker, der Letten und der Esthen, hineinklingen.
Wenn alle diese verschiedenen Rassen und Stämme, der germanischen, der slawischen, der lettisch-litauischen und der finnisch-altaischen Völkerfamilie angehörend, in gegenseitigem Verständnis und Einvernehmen freundwillig nebeneinander bestehen wollten, dann gäbe es in dem alten Europa kaum einen zweiten Fleck voll so interessanter und anziehender Ausblicke, so weiter, unabsehbarer nationaler Perspektiven. Aber eine unerbittliche geschichtliche Entwicklung hat in diese weiten, fruchtverheißenden Gebiete das Unkraut der Halbheit, der Unvollendung und des Ungenügens gestreut. Seit der »Aufsegelung« Livlands im zwölften Jahrhundert ist an den Ostseegestaden unausgesetzt gekämpft, gerungen und gelitten worden, ohne daß der Siegespreis jemals so furchtbarer Anstrengungen wert erschien. Es ist als ob das ganze jammervolle Siechtum des »heiligen römischen Reiches teutscher Nation« – Gott habe es selig! – dort am fernen Baltenstrande seine schlimmsten politischen Abscesse abgelagert hätte. Noch heute zeigen die Provinzen, rein ethnologisch genommen, fast dasselbe Bild wie im Mittelalter: eine breite Unterschicht eingeborener Stämme, zwischen deutschen und russischen Einflüssen hin- und herschwankend. Was die deutsche Kultur schließlich durch ihr geistiges Übergewicht,[3] ihre starke, natürliche Anziehungskraft gewonnen hatte, wurde ihr neuerdings durch die einschneidenden Umgestaltungen der Regierung wieder entzogen, ohne daß mit der offiziellen Russifizierung bis hierzu eine wirklich innere Ausebnung der Verschiedenheiten des Landes verbunden gewesen wäre. Man ist dort heute thatsächlich nicht viel weiter, als man vor Jahrhunderten war, nur daß die autochthonen Völkerschaften, die Letten und Eschen, inzwischen in der aufklärenden und charakterbildenden Schule des Protestantismus einen gewissen Grad von Mündigkeit erlangt haben und alle ihre Kräfte aufbieten, um innerhalb der ihnen von der Regierung gezogenen Grenzen ihre nationale Eigenart zu wahren.
Durch seine Geburt dem Russentum, durch Erziehung und Bildung dem Deutschtum angehörend, mit seinen Sympathien dem litterarischen und künstlerischen Aufschwung der Autochthonen zugewandt, wäre Victor von Andrejanoff so recht der Mann dazu gewesen, als »Tolk« (der alte nordische Ausdruck für Dolmetscher) zwischen den verschiedenen Zungen seiner Heimat zu dienen und die verschiedenfarbigen Lichtstrahlen ihrer Einflüsse und Anregungen im Fokus reiner dichterischer Gestaltung zu einem glänzenden Spektrum zu vereinen. Es war ihm nicht vergönnt, denn er fand mit seinen Bestrebungen keinen äußern Rückhalt, keinen Ruhepunkt, auf dem er fußen konnte. Von einer Partei zur andern umhergestoßen, selber zweifelnd, irrend, tastend, sah er sich bald vom Sonnenglanz aufsteigenden Ruhmes umstrahlt, bald tief in den düstern Schatten zerrissener Sturmeswolken gehüllt. Auf diesem zerstampften, zerwühlten Kampfesboden ist ein ausgleichender, vermittelnder Standpunkt nicht denkbar. Dort giebt es keine Richtung, keine Gruppe, kein Preßorgan, die ausschließlich höheren Idealen nachstrebten. Alles soll den Sorgen und Nöten des Tages dienen, nach geschehenem Werk in Nacht und Vergessenheit versinkend. So arm sind diese unglücklichen Menschen, die in einem Zeitalter der Humanität, der kosmopolitischen Toleranz zu den reichsten und bevorzugtesten der Weltge hören würden.
Reich und aussichtsvoll waren auch die äußeren Lebensbedingungen, unter denen der Verstorbene aufwuchs. Am 10./22. Juli 1857 als der Sohn eines höheren russischen Gendarmerieoffiziers und einer deutschen Mutter in der kleinen Stadt Koslow im Gouvernement Tambow geboren, siedelte er mit seinen Eltern schon[4] wenige Jahre später endgültig nach der baltischen Metropole Riga über, wo sein Vater die Stellung eines Generals und Chefs der livländischen Gendarmerie erhalten hatte. In dieser großen und vorgeschrittenen Stadt, in der das Erziehungswesen wie das gesamte öffentliche Leben damals in den Händen der Deutschen ruhte, genoß er eine vollkommen deutsche Bildung. Noch als Schüler unternahm er an der Seite seiner Eltern weite Reisen durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich. Im Jahre 1876 bestand er in Riga die Abiturientenprüfung, studierte dann in Dorpat ein Semester lang Nationalökonomie, 1878/79 in Jena Philosophie (Humaniora). Ein Pistolenduell, das ihm ein paar Monate Festungshaft auf der Osterburg bei Weida eintrug, machte seinen Studien für immer ein Ende. Er begab sich nun wieder nach Riga zu seinen Eltern. Diese, die ihn als einziges Kind unsäglich verwöhnt und mit ihrer vorsorglichen Zärtlichkeit ebenso unsäglich gepeinigt hatten, suchten ihn nun wieder ganz in die Stellung eines Muttersöhnchens hineinzuhätscheln. Es kam zu Konflikten – endlich zu einem völligen Bruch.
Um diese Zeit gerade war der junge Dichter mit seinen poetischen Erstlingen keck und herausfordernd in die Arena der Öffentlichkeit gesprungen und hatte besonders mit dem in byronischem Stil gehaltenen satirisch-romantischen Epos »Am Kaisersitz«, in dem er verschiedene Personen und Zustände heftig angriff, viel böses Blut erregt. Von allen Seiten rückte es finster und unheildrohend gegen ihn heran. Eine idyllische Zwischenperiode war seine Verlobung mit Marie Hofmann, der Tochter eines kurländischen Gutsbesitzers. Aber auch dieses liebliche Intermezzo sollte in Kampf und Not ausgingen, da seine Eltern die Verbindung nicht zugeben wollten. Erst nach einer Reihe verzweifelter Bemühungen und höchst abenteuerlicher Vorgänge kam es zur Trauung und zu einer äußerlichen Aussöhnung. Der künstlich gekittete Friede sollte aber nicht lange währen – eine neue Entzweiung trat ein und der Dichter sah sich nebst seiner kleinen Familie nun ganz auf den Ertrag seiner Feder angewiesen.
Er wandte sich der Tagespresse zu, trat in die scharfe, schneidende Luft der Politik, den Lärm der Gassen hinaus. Herr Richard Ruetz, der Herausgeber der »Zeitung für Stadt und Land« (jetzt »Rigasche Rundschau«) gewährte ihm lange Jahre hindurch einen[5] freundschaftlichen Rückhalt. Aber sein unruhiges Temperament ließ ihn nicht lange in fester Stellung ausharren, er beschwor neue Krisen über sich herauf, wurde von einem Parteilager zum andern umhergeworfen und geriet in die äußerste Not und Bedrängnis. Seine leidenschaftlichen Ausfälle gegen die Formenstarrheit der heimatlichen Verhältnisse hatten die Feindseligkeit gegen den heißblütigen Poeten auf den Höhepunkt getrieben, niemand wollte mehr etwas mit ihm zu schaffen haben. Als er dem Untergange, dem völligen Zusammenbruch nahe war, da sprang endlich sein Vater, der dem unglücklichen Sohn stets in herzlicher Liebe zugethan war, helfend und rettend ein. Eine letzte und dauernde Verständigung vollzog sich und der Dichter sah sich fortan allen Sorgen um das tägliche Brot überhoben.
Die trauliche Einsamkeit des Studierzimmers, des behaglich eingesponnenen Familienlebens, das er über alles liebte, entrückte ihn wieder dem heißen Getriebe der Journalistik. Die Brust atmete freier und ruhiger, die gehetzte, verfolgte Phantasie wandte sich von neuem den höchsten Problemen menschlichen Sinnens und Forschens zu. Als ihm vollends durch seinen Vater im Jahre 1894 die Übersiedelung nach Berlin ermöglicht wurde, als er die kleinen, zerklüfteten Verhältnisse der Heimat aus der Ferne und von einem erhöhten Standpunkt überschauen konnte, da ebneten sich allmählich die hochgehenden Wogen seiner aufgewühlten Gedankenflut, der Blick wurde fester und klarer, die innere Unruhe wich einem rührigen, geordneten Schaffen. Allmählich verschwand auch die nagende Bitterkeit, die ihm die besten Jahre des Lebens vergällt hatte. Er war zum Frieden mit sich selbst gelangt. Sein Temperament, sein überaus weiches und reizbares Empfinden war stets ein echt russisches geblieben, sein Geist war dagegen im Stahlbad deutscher Verstandeszucht zur Genüge gekräftigt und gehärtet worden, um sich nicht in lähmendem Pessimismus, in grübelnder slawischer Skepsis zu zerreiben. Dieser unermüdliche, elastische Geist glaubte und hoffte wieder und wies dem dichterischen Impuls neue Wege, größere Ziele.
Andrejanoff war in erster Linie Lyriker, ein Sänger des Schönen, des Edlen, eines erträumten romantischen Geistesrittertums. Seine Lieblinge waren Byron und in noch höherem Grade der phantastische, farbenschwelgerische, gold- und silberberauschte Shelley.[6] Die einzige Novelle von ihm, die im Druck erschienen ist, das »Liederbuch der Königin«, hat Ludwig den Zweiten von Bayern, den letzten Romantiker auf dem Throne, zum Helden. In seiner ersten Schaffensperiode sehnte er sich hinweg auf stille, palmengekrönte Koralleninseln im Ocean oder in sternenfunkelnde Zaubernächte mit Elfenspuk und Feenwundern. Als er sich der Gedankendichtung zuwandte, da konnte er nach seiner Anlage, seinen gesamten seelischen Neigungen nur ein erbitterter Kämpfer gegen die Prosa und Mattherzigkeit seiner Zeit werden. Seiner Vertiefung in indische Poesie, buddhistische Philosophie und Schopenhauerisch-Wagnerische Mitleidsmoral entsprang die Gedichtsammlung »Die Religion des Erbarmens und das Evangelium der Weltfreude«. Bis dahin war er Romantiker der Vergangenheit gewesen. Die Bekanntschaft mit Nietzsches Schriften rief dann eine tiefgreifende Umgestaltung in seiner Weltanschauung hervor und machte ihn mit einem Schlage zum Romantiker der Zukunft. Übermenschen und lebensfrohe Rassehelden schwebten ihm von nun ab als Ideale vor. Das »Weltgericht«, eine großartige apokalyptische Phantasie, die er nach seiner Übersiedelung nach Deutschland bei Friedrich Naumann in Leipzig erscheinen ließ, erregte berechtigtes Aufsehen und erhob ihn zur Stellung des bedeutendsten dichterischen Vertreters der Nietzscheschen Lehren. Aber sein weiches, liebeswarmes Herz vermochte dem raschen, herrischen Aufstieg des Geistes noch nicht zu folgen und verharrte in einer nachprüfenden Stimmung gegenüber all den großen, berauschenden Eindrücken ans den Schriften des himmelstürmenden Philosophen. Mit unzähligen zarten Fühlfäden tastete es nach einer Überbrückung der jähen Kluft, einer Synthese zwischen den Forderungen der Menschenliebe und denen selbstsüchtigen, gewaltfrohen Herrentums. In einem neuen Epos »Satan«, von dem bereits einzelne imposante Fragmente vorhanden waren, wollte er in den Kampf der Prinzipien des Egoismus und des Altruismus die rührende Gestalt Christi als versöhnendes und vermittelndes Element hineintreten lassen, ohne freilich die uralten Gegensätze, den ewigen, weltgeschichtlichen Zwiespalt damit gänzlich zu schlichten. Da rief im Dezember 1895 den erst Achtunddreißigjährigen der Tod mitten aus seinen Plänen und Entwürfen ab.[7]
Die Saite, der eine Wunderfülle von Tönen entquollen war, war schrill zersprungen, ein Leben, das ganz im Suchen nach Harmonie, nach Wohllaut und Ebenmaß aufging, war jäh beendet. Nach Vervollkommnung, nach Vollendung hatte er in heißen Anstrengungen gerungen und doch blieb sein Dasein wie sein Schaffen Fragment.
Im letzten Jahr seines Lebens, in dem er eine erstaunliche Produktivität entfaltete, hatte er auch die vorliegende, dem jungfräulichen Boden lettischer Volkspoesie abgewonnene, jedoch vollkommen selbständig ausgestaltete Sammlung beendet. Sein wiederholter Aufenthalt auf den Gütern seines Schwiegervaters im westlichen Kurland halte ihn dem Landvolk nahe gebracht und ihn aus erster Quelle so manchen hübschen Stoff, manche interessante Anregung schöpfen lassen. Auch seine Bekanntschaft mit lettischen Schriftstellern und Künstlern in Riga, unter denen vor allem der begabte Dramatiker Rudolf Blaumann zu nennen ist, führte ihm unablässig Bereicherungen des aufgesammelten Schatzes zu. Das lettische Volk, das nicht gewohnt ist, in der Schlichtheit und melancholischen Enge seiner inneren Welt von Schriftstellern fremder Zunge aufgesucht zu werden, vergalt ihm dieses Interesse durch wärmste Anerkennung. So sehen wir denn, daß trotz der Mißgunst der Verhältnisse das Wirken des Verstorbenen wenigstens auf einem Gebiet heimatlichen Geisteslebens nicht spurlos und unfruchtbar vorübergegangen ist.
Berlin 1896.
Eberhard Kraus.
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