[435] 917. Die Hexenschere.

Eines Abends waren ungefähr ein halbes Dutzend Burschen zu Rodingen mit ihren Pferden auf die Weide gefahren und sie saßen im Kreise und plauderten von allerlei gleichgültigen Dingen. Da näherte sich ihnen ein altes Weib, sprach einige Worte mit ihnen und schlug einem der Burschen mit der Hand auf das Knie, grade als wolle sie einen Scherz mit ihm machen, und entfernet sich sogleich.

Auf einmal fing der arme Junge zu wimmern an und klagte über Schmerzen im Knie. Zuerst achtete man es nicht. Als er sich aber erheben wollte, konnte er keinen Schritt mehr gehen. »Was gilt's!« riefen die Jünglinge, »das häßliche Weib ist eine Hexe und sie hat dich bezaubert!« Und sogleich eilten sie ihr nach. Glücklicherweise konnte die Alte noch eingeholt werden und man zwang sie wiederumzukehren. An Ort und Stelle angekommen, wo sie die böse Tat verübt hatte, fragte man sie, was sie mit dem jungen Mann gemacht habe, und forderte sie auf, das gestiftete Unheil alsbald wieder gutzumachen. Und als sie nicht gleich darauf eingehen wollte, drohte man ihr mit Schlägen, ja sogar mit dem Tode. Endlich, als sie sah, daß alle ihre Einwendungen nichts halfen und man auf der gestellten Forderung beharrte, griff sie dem Jungen ans Knie und, man denke sich das Entsetzen und das Staunen aller, sie zog dem jungen Mann eine große Schere aus dem Knie, welche sie ihm in der Geschwindigkeit hineingezaubert hatte.


Lehrer P. Hummer

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 435.
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