[558] 1143. Das Kimmfrächen in der Hölt bei Rosport.

Zwischen den Dörfern Rosport und Hinkel erhebt sich von der Sauer umspült, der waldige Hölteberg, der an der östlichsten Grenze unseres Landes wie ein riesenhafter Markstein steht. Über dem nördlichen Kamm dieses merkwürdigen Bergkegels ragt zwischen Leien und Gebüsch das Kimmhäuschen empor, ein hoher, von dem Sauertale aus sichtbarer Felsen, in dessen Mitte sich eine[558] ziemlich wohnlich eingerichtete Grotte befindet, die durch eine Kluft zugänglich ist.

Diese Grotte war in uralter Vorzeit die Wohnung des Kimmfrächens, eines gespensterhaften Weibes, das dort unaufhörlich und mit großer Emsigkeit auf einer Spindel zu spinnen pflegte und daher auch Spinnfrächen im Kimmhäuschen genannt wird. Wer es nicht glauben will, braucht nur einfach mit dem Kopfe an den Felsen zu stoßen, und er wird sie auf der Stelle spinnen hören. Daher kommt es auch, daß man in der ganzen Umgegend denen, die sich mit dem Kopf an eine Mauer oder an einen Türpfosten angestoßen haben, im Scherze zuzurufen pflegt: »Hör, wie das Kimmfrächen spinnt!« oder: »Hörst du, wie das Kimmfrächen spinnt?«

Während des Frühlings und des Sommers verläßt die geisterhafte Frau in mondhellen Nächten, mit schneeweißen Gewändern angetan, ihr unterirdisches Gemach, setzt sich mit ihrem Spindel oben auf dem Scheitel des Kimmfelsens nieder und singt über dem Spinnen ein uraltes, lustiges Liedchen, das vor fünfzig Jahren noch in Rosport gesungen wurde, heute aber, wie es scheint, vollständig in Vergessenheit geraten ist.


J. Prott, Pfarrer

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 558-559.
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