[108] 256. Das Birkenmännchen.

In der Mitte der zwischen Ötringen und Mutfort gelegenen Birk, eines kleinen, aber sagenreichen Waldes, befindet sich das weit und breit bekannte Birkenmoor, an welches sich folgende Sage knüpft.

Das Pfarrgut von Mutfort wurde einst durch einen Vogt verwaltet, der schwere Schuld auf sich lud, indem er den Leuten im Handel nicht das rechte Maß und Gewicht gab. Auch versäumte er den Gottesdienst. Wenn es zur Abendandacht oder zum Rosenkranz läutete, begab er sich in Hengeres Haus oder in die alte, jetzt verschwundene Vogtei Tossings, setzte sich dort ganz bequem ans Feuer in einen Lehnstuhl nieder und suchte die Zeit mit den Weibern zu verplaudern.

Wegen dieses gottlosen Lebens fand der Vogt im Grabe keine Ruhe. Bald nach seinem Tode ging sein Geist nachts im Pfarrhause von Mutfort um. Zuerst erschien er auf dem obersten Speicher: es ließ sich dort ein Geräusch vernehmen, als würde jemand einen Sester und eine Rolle niederwerfen und dann Korn messen und ausschütten. Dann rollte das Gespenst[108] mit entsetzlichem Getöse auf dem Sester hin und her; zuletzt stieg es in die Küche hinab, fuhr in den Küchenschrank ein und raste so stark in den Tellern und Gläsern umher, als wollte es sie in tausend Scherben zerschlagen. Des Morgens aber fand man alles unversehrt in der alten Ordnung stehen. Auch in andern Häusern von Mutfort spukte es. Oft sahen die Leute aus Tossings und Hengeres, wenn es zur Andacht oder zum Rosenkranze geläutet hatte, plötzlich zu ihrem Schrecken ein unheimliches Männchen an dem Feuerherde sitzen, das nicht aussah wie die übrigen Menschen und eine große Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Verwalter des Pfarrgutes hatte.

Der Pfarrer und die anderen Leute des Dorfes wurden bald des Treibens müde und beschlossen, sich des Geistes sobald als möglich zu entledigen. Aber kein Priester aus der ganzen Umgegend wagte es, das schwierige Geschäft zu übernehmen. Da ließ man einen Pater aus der Gegend hinter Arlon kommen. Dieser stellte sich des Nachts im Pfarrhause auf, betete und zwang den Geist, vor ihm zu erscheinen und sich ergreifen und binden zu lassen. Dann führte er denselben schnell nach dem Birkenmoore hin. Unterwegs bat das Gespenst inständig, man solle es in eine Bachrinne bannen, welche zwischen Mutfort und der Birk in der Nähe der jetzigen Landstraße fließt. Doch der fromme Pater schlug ihm die Bitte ab. Da bat es noch ein letztes Mal, man möchte ihm doch wenigstens gestatten, in einen Schuh zu fahren, der des Sonntags geschmiert worden sei. Der Pater jedoch ließ sich nicht erweichen und versenkte das Männchen noch dieselbe Nacht in die Tiefe des Birkenmoores und seitdem trug es den Namen Birkenmännchen oder Birkenheerchen.

Aber auch hier fand der Geist keine Ruhe. In der Birk tat er die Leute stehen und spielte ihnen die bösartigsten Streiche. Eine Frau aus dem Hause Kühnerjahns, die sogenannte Muhm Kätt, ging damals in die Birk um Holz zu sammeln. Da fand sie in dem Pfade, der zum Birkenmoore führte, eine fertig gebundene Fäsche liegen. Freudig lud sie dieselbe auf die Schultern und kehrte nach Hause zurück. Unterwegs aber fing die Fäsche auf einmal an, immer schwerer und schwerer zu werden. Die Frau schleppte sich noch eine Zeitlang mühsam und schwitzend fort, doch als sie in die Nähe von Hantges Haus gekommen war, konnte sie nicht mehr vorwärts und mußte die Fäsche fallen lassen. Müde wie sie war, setzte sie sich darauf, um auszuruhen, doch sieh da! plötzlich saß das Birkenmännchen neben ihr auf der Fäsche. »Viel Dank,« sagte es spöttisch, »viel Dank, Muhm Kätt, daß Ihr mich so weit getragen habt,« und lief schalkhaft lachend in den Wald zurück.

Einst sollten einige Männer von Mutfort Holz in der Nähe des Birkenmoores fällen. Als sie an den Rand des Moores kamen, wagten sie es kaum noch, voranzuhauen. »Ei!« sprachen sie untereinander, »wenn nun das Heerchen käme!« Da ließ sich plötzlich in dem Laube ein schreckliches Getöse[109] vernehmen; es war, als wollten die Bäume ihre Kronen biegen und mit ihren Ästen um sich schlagen, um die Holzhauer zu peitschen. Seit der Zeit hatten die Leute kaum noch Mut, Holz in der Nähe des Birkenmoores zu hauen.

Sogar bis in das Dorf Mutfort wagte sich das Birkenmännchen wieder hinein. Es erschien von neuem im Pfarrhause und wiederholte in einem noch viel ärgeren Grade sein altes Spiel. Auch in Hengeres und Tossings sahen es von Zeit zu Zeit die Leute wieder auf der Bank neben dem Fenster sitzen.

Wegen dieser Vorfälle sahen sich die Leute gezwungen, den frommen Pater zurückzurufen. Dieser nahm um Mitternacht das Gespenst ein zweites Mal im Pfarrhause gefangen. Doch diesmal hüllte er es in einen bleiernen Mantel ein und beschloß, dasselbe nicht mehr in das nahegelegene Birkenmoor, sondern bis in die jenseits der Mosel, Remich und Stadtbredimus gegenüber gelegene Almer Bâch zu bannen. Er betete eine kurze, aber kräftige Segensformel ab und sprach dann zu dem Geiste: »Wer mitgehen soll, der komme!« Das war nicht gut gesagt. Er hätte sagen sollen: »Wer mitgehen will, der gehe,« so hätte das Männchen zu Fuß neben ihm hergehen müssen. Nun aber legte es sich, statt zu gehen, mit seinem ganzen bleiernen Gewichte auf den Rücken des Paters nieder und so mußte dieser es keuchend und mit unsäglicher Anstrengung zur Hintertür des Pfarrhauses hinausschleppen. Vor dem Gartentore angekommen, sank der Mann Gottes unter der entsetzlichen Last zusammen. Doch er wußte gleich Rat zu schaffen; er betete wieder einen neuen, kräftigen Segensspruch und nun war die tückische Gewalt gebrochen: das Birkenmännchen mußte mit ihm zu Fuß bis nach Remich gehen.

Dort angekommen, nahm der Pater das Gespenst unter den Mantel und bat einen Fährmann, ihn über die Mosel zu setzen. Dieser, in der Meinung, er habe nur einen einzigen Mann an das andere Ufer zu setzen, wollte eiligst einen Kahn bereit machen. »Guter Mann,« rief da der Priester, »nehmt die Fährbrücke.« – »Was?« entgegnete der Schiffer, »ich werde wohl die Fährbrücke nehmen müssen für einen einzigen Mann!« – »Nehmt sie nur«, erwiderte der Pater, »Ihr werdet Arbeit bekommen«. Der Fährmann staunte und zuckte die Achseln, gehorchte aber. Und sieh da! kaum hatte der Pater die Fährbrücke betreten, da sank dieselbe so tief ein, daß deren äußerer Rand nur noch einen Finger breit über dem Wasser sichtbar war. Da rief der erstaunte Fährmann aus: »Heiliger Mann, Ihr seid wahrlich nicht allein!« – »Ihr habt recht«, antwortete der Pater, »ich habe noch etwas bei mir.« – »Nun«, erwiderte der Schiffer, »da kann ich nicht begreifen, was Ihr so schwer geladen habt. Ich möchte es gerne sehen.« – »Ich bitte«, entgegnete der Pater, »seid nicht neugierig, es könnte Euch schaden.« Doch der Fährmann bestand fest auf seinem Willen. »Ehe ich anfahre«,[110] sprach er mürrisch, »will ich wissen, was ich außer Euch geladen habe.« – »So habt doch wenigstens Geduld«, bat der Priester, »bis wir an das andere Ufer gekommen sind; dort werde ich es Euch zeigen.« Der Mann fügte sich und fuhr ab. Kaum war es ihm möglich, wie stark er auch war, die leichtscheinende Last fortzudrücken, so schwer war dieselbe. Als beide an dem anderen Ufer angekommen waren, sprach der Pater: »Nun, seid Ihr standhaft, guter Mann?« – »Jawohl, ich bin es«, erwiderte der Fährmann. Darauf schlug der Pater seinen Mantel zurück und zeigte ihm darunter ein fast ganz in Blei gekleidetes Männchen, das wie Feuer und Flammen war und kaum die Größe eines Kindes von drei Monaten hatte. »O«, rief der Fährmann aus, »das ist der Teufel nicht, sonst wäre er nicht so schwer!« und er war dermaßen erschrocken, daß, als er nach Remich zurückkehrte, seine Haare weiß wie Schnee waren. Bald nachher wurde er krank und starb.

Der Pater aber führte den gebändigten Geist bis in die Almer Bâch und bannte ihn dort, nach den einen auf neunundneunzig Jahre, nach den anderen auf ewige Zeiten fest und zwar so eng, daß er das Land nicht mehr betreten durfte. Seither hat das Dorf Mutfort und auch dessen Umgegend Ruhe.


J. Prott, Pfarrer

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 108-111.
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