[213] 492. Die Schießschlangen.

Daß es ehemals Schießschlangen gegeben, muß wohl seine Richtigkeit haben, denn bei Rodingen befindet sich ein Ort, wo sich solche aufhielten; viele Rodinger haben sie gesehen und man spricht noch heute davon wie von einer ausgemachten Sache. – Der Ort, wo sich diese Schlangen aufgehalten, liegt im Rodinger Walde, unterhalb dem Fond de Graas. An dieser Stelle des Waldes, »in den Krunpren« genannt, entspringen viele reine Quellen und unter sanftem Geriesel rollen sie ihre Wasser den Berg hinab und führen sie dem Bächlein im Tale zu, welches sie alle miteinander aufnimmt und weiterführt.

Die Schießschlangen, welche viel länger waren als die übrigen Schlangen, hielten sich gern an solchen Orten auf, wo sie helles Wasser und kühlen Waldesschatten fanden; denn sie mußten Wasser haben, um sich von Zeit zu Zeit darin zu baden. Hier hatten sie das eine und das andere.

Dort wurden sie oft gesehen von denjenigen, welche durch den Wald gingen oder darin Holz sammelten, wie sie sich wuschen und ihre Sprünge machten, sich auf die Bäume schwangen und sich dann herunterließen, um sich wieder hinaufzuschwingen.

Was das Wunderbarste aber war, die Schießschlangen hatten goldene Kronen auf dem Kopfe, was sie besonders schön erscheinen ließ, denn auch ihr übriger ganzer Körper war mit schönen, buntfarbigen Ringen bedeckt. Daß diese Krone nicht aus einem hellschimmerndem, farbigem Ringe bestand, den sie um den Kopf hatten, geht daraus hervor, daß nach der Aussage[213] der Alten sie diese Krone ablegen konnten. Besonders taten sie dies beim Baden. Sie legten dann die Krone auf einen Stein, um sie nach dem Bade wiederaufzusetzen. Jedoch konnten sie nicht lange ohne dieselbe sein. Wurde die Krone entwendet, so trauerte die Schlange drei Tage lang, lief wütend umher und am dritten Tage nahm sie sich, wenn sie die Krone nicht wiederfand, das Leben, indem sie den Kopf an einen Stein oder an einen Baum schlug, bis sie leblos niedersank.

Einmal war es einer Frau gelungen, sich einer dieser Kronen zu bemächtigen. Am dritten Tage fand man die Schlange mit zerschelltem Kopfe an dem Steine liegen, worauf sie ihre Krone niedergelegt hatte.

Ohne Flügel konnten diese Tiere in der Luft fliegen und zwar mit der Schnelligkeit eines abgeschossenen Pfeiles. Daher auch wohl ihr Name: Schießschlangen. Wenn etwas Lebendes vor der Schlange in der Luft daherflog, wie z.B. ein Vogel, so flog er ihr in den Rachen. Durch eine geheimnisvolle, ihr innewohnende Kraft zog die Schlange ihn an.

Mit den Drachen hatten die Schießschlangen das gemein, daß sie lange Feuerstrahlen aus ihrem Rachen vor sich hersandten, wenn sie hoch in den Lüften daherflogen.


Lehrer P. Hummer

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 213-214.
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