[215] 497. Ein seltsamer Säugling.

Einst ging eine Frau aus Rodingen in den Wald, um Kraut für ihre Kuh zu sammeln. Während sie das hohe Gras abriß und ihren Säugling an der Brust hielt, stieß sie auf eine junge Schießschlange. Da diese Tiere, nach der Aussage der alten Leute, immer große Lust nach Milch haben, so sprang die Schlange der Frau rasch an den Busen[215] und fing an zu trinken. Das Schlimmste aber war, daß sie nicht mehr davon ablassen wollte. Dies war der Frau äußerst lästig und sie mußte zuletzt einen Korb machen lassen, um die Schlange darin zu tragen, weil diese zu schwer war. Das dauerte lange Zeit. Da hörte man, diese Art Schlangen seien sehr vorwitzig; lasse man einen Schuß fallen, so werde sie wahrscheinlich den Kopf von der Brust der Frau entfernen, um umherzuspähen. Daraus beschloß man Vorteil zu ziehen.

Die Frau setzte sich hinter einen gewandten Reiter aufs Pferd und man ritt über die Brücke eines Flusses. Ein Mann hatte sich in einiger Entfernung mit einem geladenen Gewehr aufgestellt und schoß in diesem Augenblick sein Gewehr ab. Die Schlange reckte rasch den Kopf in die Höhe; aber sofort lag sie auch schon mit dem Korb im Flusse. Der Reiter eilte nun mit der Schnelligkeit des Windes davon, verfolgt von der Schlange, die sich aus dem Fluß herausgearbeitet hatte. Jedoch bevor dieselbe sie erreichen konnte, waren Reiter und Frau abgestiegen und in einem Hause geborgen. So war die Frau von dem unangenehmen Säugling befreit.


Lehrer P. Hummer

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 215-216.
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