[273] 651. Die Schläderjungfer bei Kontern.

In der zwischen Mutfort und Kontern gelegenen Schläd erhebt sich an dem waldigen Abhang eines Berges der weit und breit bekannte Tillepetches-Fels, in welchen die Natur einen zu beiden Seiten offenen Gang gebildet hat, den man heute »huolen Ähr« zu nennen pflegt. Dieser merkwürdige Felsen ist schon seit undenklichen Zeiten der Wohnsitz einer großen, schlanken, schneeweißgekleideten Jungfrau, die unter dem Namen Schläderjungfer oder Jungfer aus der Tillepetches-Fels bekannt ist und in gewissen Nächten auf den Wegen und an den Bächen und Quellen der Schläd umherwandelt. Meistens erscheint sie auf dem einige hundert Schritt unterhalb der Tillepetches-Fels gelegenen Mühlewuos, einem Anger, der von fünf Quellen bewässert ist, deren bedeutendste der Mühlebur und das Pfaffenbirchen sind. Zuweilen geht sie[273] aber auch in der stengechter Hiél um, einem dunkeln Hohlweg, der von dem Mühlewuos durch eine mit Wald bedeckte Schlucht hinauf nach Kontern führt. Ihre Ankunft wird verkündigt durch ein gewaltiges, im Wirbel drehendes Sausen, welches sich über die Felsen und Schluchten der Schläd erhebt, ganz so, als seien Wald und Luft voll Hexen und Teufel.

Dem einsamen Wanderer, der sich um Mitternacht von Mutfort nach Kontern begibt, begegnet nicht selten, wenn er auf dem Mühlewuos vor dem Eingang der stengechter Hiél angekommen ist, eine hohe, schlanke Jungfrau in langen, weißen Gewändern. Das ist die geisterhafte Schläderjungfer, welche diesen Ort unheimlich macht. Bald tritt sie aus der stengechter Hiél, bald aus der Schläderbâch hervor; manchmal aber scheint sie auch von der Mühlbacher Mühle oder aus der Richtung von Mutfort herzukommen. Wie der erschrockene Wanderer sie auch grüßen und anreden mag, sie spricht kein Wort, sondern im tiefsten Schweigen begleitet sie ihn, neben ihm oder hinter ihm hergehend, durch die stengechte Hiél bis zu der ungefähr zweihundert Schritt höher in der Mitte des Bergabhanges gelegenen Brechkaul, wo sie ebenso plötzlich wieder verschwindet wie sie gekommen war. Ein andermal gesellt sie sich den Leuten erst hier an der Brechkaul zu und begleitet sie auf dieselbe Weise bis auf den Gipfel des Berges, wo sie in der Nähe des sogenannten Zeeregärtchen plötzlich unsichtbar wird.

Andre Leute, die ebenfalls in später Nacht von Mutfort nach Kontern gingen, erblickten plötzlich, als sie eben an dem Mühlenbur vorüber waren, eine schneeweißgekleidete Weibsgestalt, welche rechts am Weg, hart beim Eingang der stengechter Hiél, unter einer alten, mächtigen, jetzt verschwundenen Buche saß und damit beschäftigt war, nach der Art, wie Weiber sich zu putzen pflegen, ihre Haare zu kämmen, zu flechten und zu kräuseln. Das war wiederum die geheimnisvolle Schläderjungfer. Von den Vorübergehenden angeredet oder zum Mitgehen eingeladen, erwiderte sie kein Wort, blieb wie versteinert sitzen und ließ sich in ihrer Beschätigung nicht stören. Von Zeit zu Zeit zeigte sich dieselbe Erscheinung auch an der Brechkaul in der Ecke, wo ein Weg von der stengechter Hiél aus nach dem sogenannten Mühlengrund abzweigt.

In der Nähe des Mühlenburs und mitten in der stengechter Hiél wurde dieselbe Schläderjungfer auch öfters gesehen als nett- und weißgekleidete Jungfer mit einem Bündel Leinwand unter dem Arme.

Einst hütete des Nachts ein Hirtenknabe aus Mühlbach seine Herde auf dem neben dem Mühlenbur gelegenen Anger. Da trat plötzlich aus der stengechter Hiél eine schlanke, schneeweißgekleidete Jungfer hervor, die ein weißes Päckchen unter dem Arme trug. Die Seitenlappen ihrer Haube flatterten wie kleine Fähnchen im Wind. Als der Knabe ihrer ansichtig wurde, glaubte er, es sei ein Mädchen, das sich einen Dienst suchen gehe. »Willkommen!« rief er ihr munter zu, indem er sich ihr näherte. »Willkommen![274] Wohin? Geht Ihr einen Meister suchen?« Doch die Jungfer antwortete ihm nicht und blickte ihn mit großen, hellen Augen starr an. Der Knabe hatte nun auch in der Nähe erkannt, daß er nicht ein einfaches Dienstmädchen, sondern eine vornehme Jungfer vor sich habe. Er meinte, sie habe sich verirrt, hatte recht inniges Mitleid mit ihr und suchte sich ihrer anzunehmen. »Seid Ihr verirrt, Jungfer?« fuhr er in einem bescheideneren Tone zu fragen fort. »Sagt es mir, und ich will Euch den rechten Weg zeigen.« Die Jungfer aber erwiderte auch diesmal kein Wort und ging stumm, als hätte sie seine Frage nicht gehört, ruhig ihres Weges weiter. Der Knabe, der auf seine wiederholten Fragen keine Antwort erhielt, wurde nun etwas verblüfft, folgte ihr jedoch und fragte nun ein drittes Mal: »Wie, Ihr antwortet mir nicht, Jungfer? Ich meine es doch gut. Seid Ihr etwa stumm? Seid Ihr taub? Seid Ihr aus der Fremde und versteht Ihr unsere Sprache nicht?« Doch auch diesmal erhielt er keine Antwort. So waren indessen beide miteinander bis zu der Brücke gekommen, welche über den Schläderbach führt. Dort wurde die Jungfer plötzlich unsichtbar und es erhob sich in der Luft ein ungestümes, unheimlichgrollendes Rauschen, welches sich im Kreise herumdrehte und den Knaben mit sich emporzureißen drohte. »Ei! Das war die Schläderjungfer!« rief dieser zitternd und bebend aus, bekreuzte sich und lief, so schnell er konnte, nach Hause.


J. Prott, Pfarrer

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 273-275.
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