[276] 655. Die weiße Frau auf Schloß Pettingen.

Vor dem alten, jetzt fast ganz in Trümmern liegenden Schloß zu Pettingen bei Mösdorf erzählt man, daß es früher eine feste Burg gewesen sei und mit den benachbarten Schlössern durch unterirdische Gänge in Verbindung gestanden habe. Deshalb habe nie ein Feind das Schloß einnehmen können, weil immer Hilfe von den Nachbaren kam.

Vor nicht gar langer Zeit, so erzählte man, sei jedes Jahr am 15. Juli um Mitternacht eine weiße Frauengestalt auf dem Gemäuer der Burg erschienen. Mit fliegendem Haar irrte sie im Schloß umher und rief gar kläglich, man solle ihr ihr Kindlein lassen. Einst lebte nämlich in diesem Schloß ein Ritter, dessen Namen die Sage nicht kennt, der sehr tapfer, aber auch ebenso böse und grausam war. Der stille Charakter seiner Gemahlin, die fromm und sanftmütig war, gefiel dem Ritter nicht, so daß sie von seiner Roheit Unsägliches zu erdulden hatte. Drei Jahre nach ihrer Vermählung gebar sie ihm ein wunderschönes Töchterlein, das völlige Ebenbild der Mutter. Der Ritter, der lieber einen Sohn gehabt hätte, um ihn nach seinem Willen zu erziehen, wollte seiner Gemahlin das Kind wegnehmen und es umbringen. Als aber die Mutter sich widersetzte, geriet er so in Wut, daß[276] er sie erstach. Die Tochter übergab er einem Diener, um sie in den Fluß zu werfen. Dieser tat aber nicht nach dem Gebot seines Herrn. Sie wuchs zur blühenden Jungfrau heran und ward später die Gemahlin eines Ritters von Fels.

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 276-277.
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