XVI. Dschahan.

[55] Es war einmal eine Frau; die hatte einen Jungen, namens Dschahan, und ein kleines Mädchen, das noch in den Windeln lag. Sie sprach zu Dschahan: »Dschahan, ich gehe die Messe hören; mach' ein wenig warmes Wasser zurecht, wasch' mir das Mädchen, wickle es in die Windeln und bring' es zu Bette!« Dschahan antwortete: »Jawohl, Mutter! Geh' und habe weiter keine Sorge darüber!« Seine Mutter ging nun zur Messe, Dschahan aber zerbrach alle Stühle und zündete mit ihren Trümmern ein Feuer an; dann setzte er den Kessel aufs Feuer; dabei verbrannte er eine Masse von dem Holze der Stühle. Als er sie gänzlich verbrannt hatte,[55] begann der Kessel zu kochen und zu brodeln. Er ging nun hin, nahm die nackte Kleine und warf sie in den Kessel. Dann holte er sie wieder heraus, holte die Kiste mit dem Weisszeuge, legte ihr eine Menge Weisszeug aufs Gesicht, wickelte sie in die Windeln ein und legte sie in die Wiege. Er sprach zum Kinde: »Schlaf nur weiter bis zur Nacht; denn jetzt bist du rein und sauber und riechst nach schöner frischer Wäsche!« Dann klopfte es an die Tür. »Die Mutter kommt! Hei! Gott sei Dank, dass ich den Auftrag so ordentlich besorgt habe, den sie mir gegeben hat!« Damit ging er hin und öffnete. Die Mutter fragte ihn: »Das Mädchen –?« »Schläft!« versetzte Dschahan. »Dann will ich hingehen und es sehen!« sprach hierauf die Mutter Dschahans und ging hin und guckte nach der Kleinen; da erblickte sie sie mit aufgesperrtem Munde und verglasten Augen – tot! »O weh!« rief sie aus; »was hast du mir angetan? Sag' an!« Dschahan versetzte: »Was ich dir angetan habe? Ich hatte mir vorgenommen, das Wasser müsse kochen, damit der Schmutz besser von ihr abginge!«

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 55-56.
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