XXXII. Die drei Anklagen.

[84] Es war einmal ein Mann; der zog seines Weges dahin und traf mit einem anderen Manne zusammen, der einen Esel hatte; das Tier war auf dem Wege niedergestürzt. Der Mann rief ihm zu, ihm zu helfen den Esel auf die Beine zu bringen. Das tat der erste, riss hernach aber dem Esel den Schwanz aus. Der Mann verklagte ihn.

Hierauf zog der Verklagte seines Weges weiter in ganz verzweifelter Stimmung. Ohne Plan und Ziel wanderte er dahin, – da überraschte ihn der Regen. Doch bald fand er eine offene Tür. Drinnen im Hause war eine Frau; die rief ihn herein, und er trat ein und suchte Schutz. Als er eintrat, – da hatte die Frau ein Sofa; auf dieses liess er sich nieder. Auf dem Sofa sass aber das kleine Kind der Frau; auf das Kind setzte sich der Mann; er passte nicht auf und drückte der Mutter das Kind tot. Als der Regen nachgelassen hatte, zog er die Klinke und trat hinaus. Die Frau sah ihr Kind an – und fand es tot! Nun[84] lief sie auch hinaus und hinter dem Manne her, und begann zu schreien: »Du hast mir das Kind getötet!« Der Mann erwiderte: »Lass mich in Ruhe! Du hast mir gesagt, ich solle eintreten!« Hiermit zog er seines Weges weiter. Auch die Frau verklagte ihn dann.

Der Mann lief dann auf den Steinmauern (die die Felder einfassen) hin und sprang von der Mauer auf den Steinschutt herunter; auf dem Schutte hatte sich aber eine alte Frau niedergelassen, welche getrocknete Feigen aufreihte. Auf diese Alte geriet der Mann und tötete sie. Sie hatte nun drei Söhne; die verklagten den Mann.

Nach acht Tagen fanden die Verhandlungen gegen ihn statt. Der Mann aber traf mit einem Herren zusammen, welcher zu den Gerichtspersonen des Ortes gehörte. Der sprach zu ihm: »Hab' keine Angst, denn die Sache untersteht mir; ich werde dich überall durchbringen!«

Der Tag kam, an dem der Mann zur Verhandlung gehen musste, und die beiden (der Mann und jener Herr) begaben sich hin. Als sie anlangten, rief er (der Herr als Vorsitzender des Gerichtes) die Leute zur Verhandlung; als den allerersten Kläger liess er den Mann mit dem Esel vortreten; er fragte ihn: »Was hast du mit dem Manne da?« Der Gefragte begann: »Ich hatte einen Esel; der fiel nieder. Ich rief den Mann herbei mir zu helfen. Er kam und half mir den Esel aufrichten und riss ihm darauf den Schwanz aus.« Der Richter: »Was verlangst du nun von dem Manne?« Der Kläger: »Das überlasse ich dir!« Jetzt sprach der Vorsitzende: »Zuerst hat er dir einen Gefallen erwiesen und hat dir geholfen, den Esel wieder auf die Beine zu bringen, und jetzt willst du ihn verklagen? Gib ihm lieber den Esel, damit er ihn solange füttert, bis ihm der Schwanz wieder gewachsen ist; dann, wenn der Schwanz gewachsen ist, kann er dir den Esel wiedergeben!« Der Kläger aber versetzte: »Das will ich nicht haben; denn einem Esel wächst der Schwanz doch nicht wieder!« Da sprach der Gerichtsherr zum Besitzer des Esels: »Dann mache, dass du hinauskommst!«

Hierauf rief er die Frau herbei und sprach zu ihr: »Was hast du mit dem Manne da?« Sie versetzte: »Signore! Es regnete; da rief ich dem Manne zu, er solle bei mir untertreten. Das tat er. Bei mir war ein kleines Mädchen; auf dieses setzte er sich[85] auf dem Sofa und tötete mir das Kind!« Der Richter: »Was willst du nun von dem Manne?« Die Klägerin: »Das überlasse ich dir!« Der Richter: »Nun, weisst du, wie wir's machen wollen? Der Mann soll mit dir gehen und einmal bei dir schlafen!« Da begann die Frau zu schreien und rief aus: »So will ich's nicht haben!« »Dann mache, dass du fortkommst!« sprach hierauf der Richter zu ihr.

Jetzt waren zwei Klagen erledigt; nun stand dem Manne noch der Handel wegen der alten Frau bevor. Der Richter rief die Söhne der Alten herein und fragte sie: »Was habt ihr mit dem Manne da?« Die Gefragten entgegneten: »Herr, wir hatten eine alte Mutter. Sie war dabei, getrocknete Feigen auf einer Steinbank aufzureihen. Da sprang der Mann von oben auf unsere Mutter herunter und tötete sie durch den Sprung!« »Was wollt ihr nun von ihm?« »Er hat unsere Mutter getötet; handle du, wie du willst!« »Wisst ihr, was ihr tun sollt? Der Mann soll hingehen und sich auf die Steinplatte setzen, auf der eure Mutter mit dem Aufreihen der getrockneten Feigen beschäftigt war, und ihr sollt – einer nach dem andern – auf ihn springen, damit ihr ihn tötet, wie er eure Mutter getötet hat!« »Signore, so wollen wir's nicht haben!« »Dann tretet ab! Ich kann sie euch nicht wieder lebendig machen!«

Mit diesen Worten jagte er die Söhne der alten Frau hinaus; zu dem Manne aber sprach er: »Geh' dorthin, wo du früher warst! Hast du gesehen, wie schön ich dich überall durchgebracht habe?«

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 84-86.
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