V. Diamantina.

[18] Es war unter anderen einmal eine Witwe; die hatte zwei Töchter: die ältere war das Bild ihrer Mutter, in Gesicht und Manieren glich sie ganz der Mutter. Aber weil dieser beiden Herz schlecht war, und sie stolz und anmassend waren, konnte sie niemand[18] leiden, vielmehr hasste sie jedermann. Die jüngere Tochter dagegen war freundlich mit jedermann und liebte jeden, und jedermann liebte sie. Wenn sie ausging, irgend etwas zu besorgen, so grüsste sie jedermann, und die Frauen lächelten ihr alle freundlich zu und gingen hin und redeten sie an. Gingen aber die Mutter und die ältere Schwester aus, so mied sie jedermann. Da die ältere Tochter ganz und gar der Witwe glich, liebte diese sie gar sehr; aber die jüngere, die gar nichts gemeinsames mit diesen beiden hatte, hassten die beiden, misshandelten sie und liessen sie Hunger leiden; ferner luden die Mutter und die ältere Schwester ihr alle Verrichtungen im Hause auf, während sie in der Stadt spazieren gingen. Die Witwe bewohnte ein Haus, das von anderen Gebäuden entfernt lag und keinen Brunnen besass. Um Wasser zu haben, mussten sie schicken und es von der Quelle holen lassen. Diese Quelle lag sehr weit ab, aber das jüngere Mädchen musste stets einmal am Morgen und einmal am Abend nach dieser Quelle wandern und das Wasser in einem riesengrossen Kruge holen, den sie kaum tragen konnte.

Als die Kleine einst in den Wald gegangen war, um Wasser zu holen, sah sie eine arme Frau auf sich zukommen, – alt war sie und ganz zerlumpt und konnte kaum gehen. Als sie zu dem Mädchen gelangte, redete sie es an: »Wie heisst du, gute Seele?« »Diamantina!« versetzte das Mädchen. »Höre, liebe Diamantina, – ach, ich verdurste: hab' Mitleid mit mir und gib mir – bitte! – ein ganz klein wenig Wasser!« »Sehr schön!« antwortete ihr Diamantina; »setz' dich hin, Grossmutter! Ich will dir zu trinken geben!« Hiermit begab sie sich zur Quelle, schöpfte das Wasser an der Seite, wo es am klarsten war, und kehrte zur Greisin zurück und gab ihr zu trinken. Als die Frau getrunken hatte, erhob sie sich und sprach zum Mädchen: »Diamantina, – wie grossen Gefallen ich an dir gefunden habe! Ich habe gesehen, wie gut dein Herz ist, und ich muss dich belohnen! Ich bin eine Zauberin und habe mich als alte zerlumpte Frau verkleidet, um zu sehen, ob du mit mir Mitleid haben würdest. Ich werde dir also ein sehr schönes Ding geben: jedes Wort, das du von heute an in Zukunft sprichst, soll ganz süss klingen und mit jedem Worte soll aus deinem Munde entweder eine schöne Rose kommen, oder eine Perle von grossem Werte.« Dann verschwand die Alte, und Diamantina sah sie nicht mehr mit ihren Augen.[19]

Weil nun Diamantina bei allem diesen sich verspätet hatte und es, als sie nach Hause kam, schon finster geworden war, wurde ihre Mutter gar zornig über sie und peitschte sie durch; die arme Diamantina aber bat sie: »Verzeihe mir, Mutter, wenn ich heutenacht lange fortgeblieben bin! Ich gebe dir aber mein Wort, dass ich sicher nicht wieder so tun werde.« Während Diamantina diese Worte sprach, kamen ihr aus dem Munde drei Rosen, zwei Diamanten und zwei Brillanten. Die Mutter starrte ihre Tochter mit weit geöffneten Augen an: »Was ist das, Diamantina? Wo hast du diese Rosen und diese Perlen herbekommen? Sag' mir, gute Seele, wo du das hergebracht hast!« Noch nie hatte ihre Mutter sie ›gute Seele‹ genannt, ausser an diesem Tage; ja, die Mutter streichelte sie sogar. Der armen Diamantina tat das so wohl, als sie sah, wie ihre Mutter sie streichelte, dass sie alles, was sie vordem an Schlimmem erlitten hatte, vergass und der Mutter schliesslich erzählte, was ihr von Seiten der Zauberin geschehen war, als sie gegangen war, Wasser zu schöpfen. Während Diamantina das erzählte, kamen so viele Rosen und Perlen ihr aus dem Munde, dass das Zimmer beinahe gänzlich von ihnen angefüllt wurde. Als das die Witwe sah, missfiel es ihr gar sehr, dass an Stelle der Diamantina nicht deren ältere Schwester Wasser holen gegangen war, – dass sie den Plan fasste, von diesem Tage an müsse ihre ältere Tochter Wasser holen, und nicht mehr die jüngere.

Die Witwe rief dann die ältere Tochter herbei und sprach zu ihr: »Sieh, was da aus dem Munde deiner Schwester herauskommt! Freutest du dich nicht, wenn auch aus deinem Munde lauter solche Perlen kämen? Weisst du, was du tust? Geh' Wasser holen, und wenn du eine alte Frau auf dich zukommen und dich um einen Trunk bitten siehst, so gib ihr Wasser, soviel sie haben will!« Die Aufgabe gefiel der älteren Schwester nun gar nicht; sie geriet in recht aufgebrachte Stimmung, und den ganzen Weg murrte sie und zankte sie auf ihre Mutter. Letztere hatte ihr ein Trinkglas aus Silber mitgegeben, damit sie der alten Frau aus ihm zu trinken gäbe.

Als das Mädchen an die Quelle gelangte, sah sie eine schöne Dame unter einem Baume hervorkommen, die herrliche Kleider trug. Die Dame trat auf das Mädchen zu und sprach: »Ich sterbe vor Durst! Wenn dir's gefällt, so gib mir ein wenig Wasser, – bei den Seelen deiner verstorbenen Angehörigen!« Die Dame war[20] dieselbe Zauberin, welche der Diamantina erschienen war; doch diesmal hatte sie sich als Dame angezogen, um zu sehen, bis wohin es mit dem bösen Herzen dieses Mädchens kommen könne. Diamantinas Schwester wusste aber nichts von alledem, und da sie keine arme alte Frau sah, meinte sie, das sei nicht dieselbe Person. Und sie fuhr sie ganz wütend mit den Worten an: »Lass dich doch auf deine Kniee auf den Erdboden nieder und trink' von der Quelle!« »Pfui über dich! Wie schlecht ist dein Herz!« sprach die Dame zu ihr; »aber mir macht es ja weiter nichts aus! Ich werde dich, wenn dein Herz so schlecht ist, aber strafen: jedes Wort, das du sagst, soll rauh klingen und die Leute erschrecken, und bei jedem Wort, das du sagst, soll dir eine hässliche Natter aus dem Munde kriechen!«

Die Dame verschwand, und das Mädchen hob den Krug empor und brach nach Hause auf. Die Mutter erwartete sie oben auf dem Dache. Als sie sie kommen sah, stieg sie rasch herunter, um sie zu empfangen. »Was haben wir ausgerichtet, Kind?« sprach sie zu ihr, als das Mädchen zu ihr gelangt war. »Nichts haben wir ausgerichtet!« antwortete ihr die Tochter, und mit diesen drei Worten kroch ihr eine Natter aus dem Munde, die einen schön in Angst versetzen konnte und zehn Spannen lang war! »Was ist dies für eine Geschichte?« begann die Mutter wieder; »was ist das? Sicherlich hat Diamantina eine Zauberei an dir ausgeführt! Aber ich werde sie dafür büssen lassen!« Und sofort machte sie sich daran, Diamantina durchzupeitschen. Das arme junge Mädchen floh von daheim fort und verbarg sich im Walde.

Der Königssohn war an diesem Tage auf die Jagd gezogen und kam genau zu dieser Zeit dort vorüber. Er erblickte Diamantina, fand, dass sie sehr schön war, und verliebte sich in sie. Er stieg vom Pferde ab und begann sie zu fragen; denn sie weinte in einem fort. »Meine Mutter hat mich von daheim fortgejagt, Herr!« Und bei diesen Worten fielen ihr fünf bis sechs Perlen aus dem Munde und ebensoviele Rosen. Nun fragte sie der Prinz, was das bedeuten solle, und Diamantina erzählte ihm alles. Der Prinz nahm sie mit zu seinem Vater und heiratete sie.

Die ältere Schwester fuhr jedermann fort zu hassen, und ihre eigene Mutter wurde schliesslich so böse auf sie, dass sie sie aus dem Hause jagte. Nachdem das Mädchen überall nachgesucht hatte, wo sie eine Stätte fände, ihr Haupt niederzulegen, und keiner[21] nach ihr Verlangen gezeigt hatte, weil sie grausam und stolz war, da ging sie hin und warf sich unter einen Baum in demselben Walde, wo sich die erwähnte Quelle befand, und starb nach kurzer Zeit des Hungertodes, und Würmer krochen an ihr herum.

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 18-22.
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