127. Schloß Couvin.

[202] Le delices du pays de Liège. II, p. 295. 296.

De Reiffenberg, Archives historiques. VI, p. 34.


Eine Stunde von Marienburg, vier Stunden von Charlemont, Ginet und Philippeville, liegt ein Dorf, das heißet Couvin. Ehemals erhob sich daselbst eine feste[202] Stadt mit einem starken Schlosse. Von dem letzten geht folgende Sage.

Johann, Graf von Renty und Seneghem, der Gemahl Margarethens von Craon, Frau von Thou, war von Karl dem Kühnen zum ersten Grafen von Chimay ernannt und mit der Verwaltung von Luxemburg beauftragt worden; nebst dem führte er noch den Titel eines Groß-Balliv von Hennegau. Gewöhnlich nannte man ihn den Grafen mit den Stiefelchen, denn er trug meist nur kurze Stiefeln, wenn er seinem Lieblingsvergnügen, der Jagd, nachging; er pflegte auch derselben mit einem solchen Eifer, daß er es nicht scheute, selbst auf fremden Boden das Wild zu verfolgen.

Deß letztern waren mehre Bürger von Couvin aber sehr unzufrieden; sie lauerten dem Grafen auf, nahmen ihn gefangen und führten ihn mit verbundenen Augen links und rechts herum und endlich auf einen der Thürme ihrer Burg, ohne daß Graf Johann wußte, wo man ihn hingebracht hatte. Auf diesem Thurme saß er sieben volle Jahre bei spärlicher Nahrung, und er würde auf demselben gestorben sein, wäre er nicht auf eine fast wunderbare Weise gerettet worden.

Ein Hirte nämlich, der in der Gegend des Schlosses seine Heerde weidete, vertrieb sich eines Tages die Zeit damit, mit dem Bogen nach dem engen Luftloche zu schießen, welches das einzige Fenster der Kammer bildete, wo der Graf eingesperrt war. Nach langem und vergeblichem Mühen haftete der Pfeil in der Maueröffnung und der Hirte kletterte den Felsen hinan, um das Geschoß wiederzuholen. Kaum hatte er jedoch die Hand darnach ausgestreckt, als er sich festgehalten fühlte. Der arme Knabe schrie in seinem Schrecken aus vollem Halse, aber der Graf beruhigte ihn bald und fragte ihn, wie das Schloß heiße. Der Hirte nannte den Namen und der[203] Graf brachte ihn durch viele Versprechungen bald dahin, daß er ihm seinen Vater schickte mit einigem Schreibzeuge. Der Alte, Jan Basselaire genannt, hörte mit Erstaunen die Erzählung seines Sohnes und ging alsbald mit ihm nach dem Mauerloche, wo der Graf einen Brief an seine Frau, die schon erwähnte Margarethe von Craon, schrieb und ihr sein arges Schicksal mittheilte. Die gute Gräfin hatte ihren Mann längst im Grabe geglaubt; um desto freudiger versammelte sie nun ihre Vasallen und zog hin, das Städtchen Couvin zu belagern. Die Einwohner waren aufs höchste verwundert, eine feindliche Armee vor ihren Thoren zu sehen, denn sie wußten nichts von der Gefangenschaft des Grafen, indem die wenigen Bürger, welche ihn in den Thurm geschlossen hatten, dieß aufs strengste geheim gehalten hatten. Sie sandten alsbald einen Herold in das Lager der Gräfin, und als sie dort die Ursache des Ganzen erfuhren, eilten sie aufs Schloß und setzten den Grafen zur Stunde in Freiheit.

Johann war durch das lange elende Kerkerleben so entstellt, daß keiner der Seinen ihn wiedererkannte, und seine Kleider fielen verfault und in Fetzen von seinem Leibe.

Zum Entgelt ließ er am selben Tage noch das Schloß niederschießen und er sprach: »Du hast mich gehabt, aber du sollst mich nicht mehr haben.« (Tu m'as couvert [Couvin], mais tu me ne couvriras plus.)

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 202-204.
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