[444] 372. Des Hirten Uhr.

Berthoud, Chron. et trad. surnat. de la Flandre. p. 199.


Vor vielen hundert Jahren hat einmal ein König die Stadt Cameryk in Flandern belagert. Er konnte aber nichts gegen sie ausrichten, denn die Muttergottes mit den lieben Englein fingen alle Steine und Pfeile auf, welche er gegen die Stadt absandte, und warfen sie ihm wieder zurück. Darüber erbitterte der König sehr und fluchte ganz grimmig gegen die Muttergottes,[444] und zwar so sehr, daß diese ihn dafür mit Blindheit strafte.

Da ging er nun in sich und versprach, nachdem er die Belagerung ganz aufgehoben, daß er der Kirche unserer lieben Frauen von der Gnade in Cameryk eine goldene Krone schenken wolle, worin sein Pferd sich gemächlich rund herum drehen könne, wenn er nur sein Gesicht wieder erhielte. Die Muttergottes erhörte ihn auch und gab ihm sein Augenlicht zurück, und er that öffentlich in der Kirche Buße, eine gelbe Kerze in der Hand.

Froh über diese Gnade, versprach der König der Kirche noch ein Geschenk, und das sollte eben so selten sein, wie das erste kostbar war.

Als er dieß Gelübde kaum gethan, da trat aus der Menge ein junger Hirte von Rom hervor und der sprach: »Herr König, das will ich machen; gebt mir tausend Goldthaler und vierzehn Jahr Zeit, so will ich euch eine Uhr fertigen, die eins von den sieben Wundern der Welt werden soll; das schwör ich euch bei meiner Seele.«

Alsogleich wurden dem Hirten tausend Goldthaler ausgezahlt, und er begann sein Werk und arbeitete Tag und Nacht vierzehn ganzer Jahre, bis die Uhr fertig war. Dann trat er vor den Bischof und sprach zu dem: »Herr Bischof, jetzt gehe ich wieder in mein Land und zu meiner armen Mutter, die ich in vierzehn Jahren nicht gesehen. Die tausend Goldstück habe ich in meinem Stock verborgen, und wenn mich der liebe Schutzengel behütet, soll die arme Frau dann noch einmal ein recht gut Leben haben.«

Der Bischof aber war ein böser Mann, und der dachte, wenn der Hirte fortgeht, dann kann der leicht eine Uhr machen, die noch schöner ist, wie die unsere, und dann kommen nicht so viel Pilger mehr nach Cameryk,[445] wie jetzt kommen werden. Er suchte also den Hirten durch Versprechungen aller Art zurückzuhalten, aber der Hirte wollte von nichts hören und entgegnete immer: »Das alles kann mir meine alte Mutter nicht ersetzen.«

Da sagte der Bischof, er wolle ihm die Mutter holen lassen; aber auch das wollte der Hirte nicht, denn er war bang, die alte Frau hätte die Reise nicht ertragen, und wollte durchaus nach Rom.

Nun sann der Bischof einen bösen Anschlag aus und ließ den Hirten durch böse Buben überfallen, als er aus der Stadt wollte; aber der Jüngling wehrte sich tapfer und sie konnten ihm nur seinen Stock nehmen.

»Nun bin ich wieder arm«, sprach er da, »aber ich habe noch Augen und Hände und kann mir wohl noch einmal tausend Goldstücke gewinnen.«

Als man dem Bischof die Worte hinterbrachte, wurde er wüthend, ließ den Hirten greifen und ihm die Augen ausbrennen und die Finger abschneiden.

Da konnte der arme Mensch nun nichts mehr thun, als betteln, und ist in Armuth in Cameryk gestorben und hat weder Rom noch seine Mutter je wiedergesehen.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 444-446.
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