491. Die lange Frau.

[591] Mündlich; mitgetheilt von Frau Courtmans.


Ein Schlächter wollte des Abends von einem Pachthofe nach Hause gehen und sein Weg führte ihn an einem großen Kornfelde vorbei, welches neben einem Bache lag. Als er bald an dem Felde war, gewahrte er schon von ferne die lange Frau, die überall die Vorläufer (so nennt man nämlich die über anderen vorragenden Aehren) abpflückte und in ein Bündel zusammenfaßte; die lange Frau, das sah er ganz deutlich, war noch einmal so hoch, als das Korn. Als er bis zu ihr gekommen war, sprach er: »Guten Abend!« aber sie antwortete ihm nicht. »Guten Abend!« wiederholte er, als er neben sie kam, und da sprach sie gleichfalls: »Guten Abend!«, schlug ihn aber dabei mit dem Aehrenstrauße ins Gesicht, und darüber erschrak er also, daß er zu laufen begann. Da lief die lange Frau hinter ihm und[591] schlug fortwährend zu, und das dauerte so lang, bis er an seinem Hause halb ohnmächtig niederfiel.

Viele haben die lange Frau auch quer auf der Heerstraße liegend gesehen, und sie war so groß, daß sie die ganze Breite des Weges einnahm.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 591-592.
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