Däumerling.

[215] Es war einmal eine Frau, die hatte nur einen einzigen Sohn, der war aber nicht größer, als ein Daumen, und darum nannten sie ihn Däumerling. Als er nun zu Jahren und zu Verstand gekommen war, sagte die Mutter zu ihm, jetzt müsse er daran denken, sich eine Frau zu nehmen. Ja, Däumerling war's zufrieden, und die Mutter setzte sich mit ihm auf den Wagen, und sie fuhren gradesweges nach des Königs Schloß; denn da war eine Prinzessinn, die war außerordentlich groß, und um die sollte Däumerling freien. Als sie nun ein Ende gefahren waren, da war Däumerling plötzlich verschwunden. Die Mutter suchte ihn überall, und rief ihn bei Namen. »Pip, pip!« sagte Däumerling und hatte sich in die Mähne des Pferdes versteckt. Als er wieder zum Vorschein kam, mußte er der Mutter versprechen, daß er sich nicht öfter verstecken wolle. Wie sie aber ein Ende weiter gekommen waren, da war Däumerling wieder verschwunden. Die Mutter suchte ihn und rief ihn bei Namen und weinte und jammerte, aber Däumerling war fort. »Pip, pip!« sagte er und lachte und kicherte; aber sie konnte ihn das Mal nicht finden. »Pip! pip! hier bin ich!« sagte Däumerling und kroch aus dem Ohr des Pferdes hervor. Nun mußte er der Mutter heilig versprechen, daß er sich nicht öfter verstecken wolle; aber es dauerte nicht lange, so war er abermals[216] fort. Die Mutter suchte ihn wieder überall und weinte und rief ihn bei Namen, aber Alles war umsonst; Däumerling war fort. »Pip, pip! hier bin ich«, wisperte es plötzlich; aber die Mutter konnte gar nicht begreifen, wo es war, denn es hörte sich so undeutlich an; sie suchte fortwährend, und er sagte immer: »Pip! pip! hier bin ich!« und lachte und hägte sich, weil sie ihn nicht finden konnte. Plötzlich aber fing das Pferd an zu niesen, und da nieste es Däumerling aus, denn er hatte sich in die eine der Nüstern versteckt. Nun konnte sich die Mutter nicht anders helfen, als daß sie ihn in einen Beutel steckte, denn sie wußte wohl, daß er die Narrenpossen doch nicht nachlassen würde. So kamen sie denn auf dem Schloß an.

Die Prinzessinn konnte den kleinen hübschen Burschen wohl leiden und verlobte sich mit ihm, und bald darauf ward die Hochzeit.

Als sie sich nun zur Tafel setzten, nahm Däumerling seinen Platz neben der Prinzessinn; aber er war übel daran, denn als er zulangen wollte, konnte er nicht an den Teller reichen und hätte gewiß keinen einzigen Bissen bekommen, wenn die Prinzessinn ihn nicht vom Stuhl genommen und auf den Tisch gesetzt hätte. So lange er nun da vom Teller aß, ging das Ding gut; als aber nachher die große Schüssel mit Grütze hereinkam, da konnte er wieder nicht ankommen; er wußte sich aber zu helfen und setzte sich auf den breiten Rand. Nun war aber in der Mitte der Schüssel eine Grube mit Butter zum Eintunken, und so weit konnte er nicht reichen; er ging daher über die Grütze und setzte sich dicht an den Rand der Butter. Nun nahm die Prinzessinn einen großen Löffelvoll Grütze und wollte ihn in die Butter tunken; aber da versah sie's und stieß an Däumerling, so daß er hinunterfiel in die Butter und ertrank.

Quelle:
Asbjørnsen, P. [C.]/Moe, J.: Norwegische Volksmärchen 1-2. Berlin: Hans Bondy, [1908], S. 215-217.
Lizenz:
Kategorien: