Bergestürzer und Eichenreißer.

[44] Eines Jägers Frau im Walde hatte zwei kleine Knaben, ein Zwillingspaar. Die Kinder waren erst wenige Tage alt, da starb die Mutter.

Kein Mensch kümmerte sich um die beiden Waisen, aber sie wurden von einer Wölfin und einer Bärin gesäugt. Sie wuchsen heran und wurden riesenstarke Jünglinge. Der eine konnte Berge umwerfen, als wären es Sandhaufen; er bekam den Namen Bergestürzer. Der andere riß die stärksten Eichen aus der Erde, als wären es Grashalme; er bekam den Namen Eichenreißer.

Die beiden Brüder liebten sich von Herzen und gingen zusammen auf Reisen, um die weite Welt zu sehen. Sie gehen durch eine Heide, einen Tag und noch einen. Am dritten Tage bleiben sie stehen, denn ein Berg versperrt die Straße, und der Berg war hoch und felsig.

»Was fangen wir nun an!« ruft der Eichenreißer traurig.

»Sorge nicht, geliebter Bruder; ich will diesen Berg schon stürzen, daß die Straße nicht gesperrt bleibt!«[44]

Stemmt sich unter mit den Schultern: krachend fällt sogleich der Berg um; schiebt ihn fort noch eine Meile.

Gehen weiter. Eine Eiche stehet mitten auf dem Wege und versperrt die ganze Straße. Eichenreißer läuft geschwinde, packt die Eiche mit den Händen, reißt sie aus samt ihrer Wurzel, wirft sie in das nahe Wasser. – Aber ob sie gleich so stark sind, fühlen sie doch auch Ermattung; ruhen also aus im Walde. Noch sind sie nicht eingeschlafen, sieh, da kommt ein kleines Männchen auf sie zu, doch so geschwinde, daß kein Tier und auch kein Vogel es vermöchte einzuholen.

Sie erheben sich verwundert, als das Männchen nun im Fluge gerade vor den beiden Halt macht.

»Ei, wie geht es Euch, Ihr Burschen?« fragt das Männchen freundlich lächelnd; »seid ermüdet, wie ich sehe. Wenn Ihr wollt, will ich geschwinde Euch hintragen, wo Ihr wünschet.«

Einen Teppich zeigt er ihnen: »Setzt Euch mit mir auf den Teppich!« Und die beiden Brüder setzen sich bequem drauf nebst dem Männchen; dieses klatscht, – und der Teppich fährt wie'n Adler durch die Lüfte.

»Sicher habt Ihr Euch gewundert,« sagt das kleine Männchen wieder, »über meinen Lauf vorhin: seht mal her! Hier sind zwei Schuhe, die ein Zauberer mir geschenkt hat. Mit den Schuhen kann ich laufen: jeder Schritt ist eine Meile; zweie mach ich, wenn ich springe.«

Beide Brüder bitten dringend, daß das Männchen ihnen doch die Wunderschuhe schenken möchte; denn obgleich sie riesenstark sind, werden sie doch auch bald müde.

Das Männchen konnte den Bitten nicht wiederstehen und schenkte ihnen die Schuhe. – Noch immer flogen[45] sie in der Luft. Vor einer großen Stadt ließ sich der Teppich nieder. In dieser Stadt war ein ungeheurer Drache, der täglich viele Menschen fraß. Der König hatte bekanntgemacht: Demjenigen, der den Drachen tötet, geb ich eine von meinen Töchtern zur Frau, und nach meinem Tode soll er König sein.

Die beiden Brüder nehmen sich vor, den Drachen zu töten, und machen sich auf den Weg zu des Drachen Höhle. Unterwegs treffen sie wieder das kleine Männchen.

»Ei, wie geht es Euch, Ihr Burschen? Weiß schon gut, wohin Ihr eilet! Aber höret meinen Rat noch: ziehet jeder einen Schuh an; denn sobald der Drache rausspringt, läßt er Euch nicht Zeit zum Töten.«

Sie gehorchen diesem Rate. Eichenreißer bewaffnet sich mit einem mächtigen Eichenstamme, um dem Drachen damit den Kopf zu zerschmettern. Bergestürzer schüttelt an den Felsenwänden der Drachenhöhle, als wäre es ein Bündel Roggen.

Aus der Höhle springt der Drache, und erschreckt denkt Eichenreißer nicht mehr an den großen Baumstamm, den er kräftig in der Hand hält. Nur ein Glück, daß er den Schuh hat, denn er springt zwei Meilen seitwärts. – Da der Drache ihm nicht nach kann, wirft er sich auf Bergstürzer. Dieser nimmt ein mächt'ges Felsstück, wirft es hin mit allen Kräften; krachend fällt der Block zu Boden, grade auf den Schwanz des Drachen. Und nun springt auch Bergestürzer seitwärts fort, schnell und behende, – und erblickt da seinen Bruder.

»Laß uns wieder hin, mein Bruder, denn das Tier kann nicht vom Platze: Du hau los mit deinem Eichstamm, und ich stürze einen Berg drauf!«[46]

Dreister gehen sie nun vorwärts. Eine Eiche schwingt der eine, und der andre trägt ein Felsstück. Gräßlich heult und faucht der Drache, da nun beide Gegner kommen. Wütend will er auf sie stürzen, doch den Schweif drückt jenes Felsstück. Eichenreißer haut nun kräftig und zerschmettert das Gehirn ihm; und der Bruder wirft den Berg drauf und bedeckt das ganze Untier.

Ungeduldig harrt der König. Groß ist jetzo seine Freude: jedem gibt er eine Tochter. Bald darauf, nach seinem Tode, teilten beide in das Reich sich, – lebten glücklich und zufrieden.

Quelle:
Volkssagen und Märchen aus Polen von K. W. Woycicki. Breslau: Verlag von Priebatschs Buchhandlung, 1920, S. 44-47.
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