Der arme Student.

[74] Ein armer Student ging auf der Straße nach der Stadt. Da sah er an den Mauern des Tores einen unbekannten Leichnam liegen, der von den vorübergehenden Leuten mit den Füßen gestoßen wurde. Er hatte nicht viel Geld im Sack, aber gern gab er seine paar Groschen zu einem christlichen Begräbnis her, damit die Leiche nicht weiter umhergeworfen würde. Dann betete er auf dem frischen Grabe und ging rüstig in die Welt hinein.

Er kam in einen Eichenwald und schlief ermüdet unter einem Baume ein. Als er erwachte, merkte er mit Staunen, daß alle seine Taschen mit Gold angefüllt waren. Er dankte dem unbekannten Wohltäter und kam an einen Fluß, bei dem er nicht weiter konnte. Zwei Fährleute aber, die seine goldgefüllten Taschen sahen, nahmen ihn in ihr Boot, und mitten auf dem Wasser raubten sie ihm das Gold und warfen ihn in den Fluß.

Hilflos trieb er in den Wellen und glaubte sich schon verloren, doch da kam ihm zufällig ein Brett zugeschwommen. Er klammerte sich daran und gelangte glücklich ans Ufer. Aber das war eigentlich kein Brett, sondern der Geist des beerdigten Leichnams, und er sprach zu ihm: »Du hast meinen Leichnam beerdigen lassen, ich danke Dir herzlich dafür! Und als Dank sollst Du von mir lernen, wie man sich in eine Krähe verwandelt.« Darauf lehrte er ihn die Worte der Verzauberung. »Und nun«, fuhr er fort, »gebe ich Dir einen Brief an meinen leiblichen Bruder; der wird Dich lehren, wie man sich in einen Hasen und in ein Reh verwandelt.« –[75]

Nachdem der Student alle diese Künste gelernt hatte, konnte er sich nach Belieben in eine Krähe, in einen Hasen oder in ein Reh verwandeln. Er kam zu einem mächtigen Könige und wurde dessen Hofjäger.

Der König hatte eine reizende Tochter, die wohnte auf einer einsamen Insel, die von allen Seiten vom Meere umflossen war. Ihr Schloß auf der Insel war ganz von Kupfer, und ein Schwert war darin, so groß und stark, daß man damit ein ganzes Heer besiegen konnte. Gerade zu dieser Zeit waren die Feinde des Königs an der Grenze des Landes, er brauchte daher notwendig das siegreiche Schwert, aber wer sollte es holen? Er machte also bekannt: »Wer das Schwert herbeischafft, soll meine Tochter zur Frau bekommen und nach meinem Tode den Thron besteigen.«

Der Hofjäger erklärte sich bereit, das Schwert zu holen, und der König gab ihm einen Brief an die Tochter mit. Der Bursche ging in den Wald, bemerkte aber nicht, daß ein anderer Jäger ihm nachging.

Zuerst verwandelte er sich in einen Hasen, dann in ein Reh, und so lief er mit voller Kraft bis ans Ufer des Meeres. Hier verwandelte er sich in eine Krähe und flog über das große Wasser hinüber auf die Insel.

Er trat in das kupferne Schloß und überreichte der Prinzessin den Brief des Vaters, und sie fand auf den ersten Blick Gefallen an dem schmucken Jäger. Sie fragte ihn, wie er denn über das Wasser gekommen sei. Da erzählte der Jäger, er kenne geheime Zaubersprüche und könne sich in eine Krähe, in einen Hasen und in ein Reh verwandeln. Die schöne Prinzessin bat ihn, doch sogleich vor ihren Augen eine solche Verwandlung vorzunehmen. Er machte sich zu einem Reh, hüpfte[76] herum und leckte die Hände der Jungfrau, und sie schnitt ihm heimlich ein Stückchen Fell heraus. Als er sich dann zum Hasen machte und mit aufgestellten Ohren umhersprang, schnitt sie ihm wieder ein Stückchen Fell aus dem Rücken. Dann flatterte er als schwarze Krähe im Zimmer umher, und die Prinzessin riß ihm heimlich einige Federn aus dem Flügel heraus. Dann schrieb sie einen Brief an ihren Vater und übergab den Brief sowie das Schwert dem Jäger.

Wie er gekommen war, so eilte er nun zurück zum Könige. Als er in Hasengestalt durch den Wald lief, lauerte dort der verräterische Jäger, der die Verwandlung beobachtet hatte. Er spannte seinen Bogen, – und der Pfeil ging dem Hasen ins Herz. Nun brachte dieser andre Jäger Brief und Schwert dem Könige und erinnerte ihn an sein Versprechen.

Der hocherfreute König sagte ihm die Hand der Prinzessin zu, setzte sich auf sein Pferd und ritt mit dem guten Schwerte kühn in den Krieg.

Als er die Feinde von weitem erblickte, schwenkte er sein Schwert nach allen vier Weltgegenden. Sogleich fielen ganze Reihen der Feinde zu Boden, und die andern liefen davon wie die furchtsamen Hasen. Froh kehrte der König heim und brachte seine Tochter mit, um sie dem Jäger anzutrauen.

Ein herrliches Fest wurde gefeiert; die Spielleute machten köstliche Musik, und das ganze Schloß glänzte von Lichtern. Aber traurig saß die Braut an der Seite des falschen Jägers. Sie hatte sogleich bemerkt, daß es nicht der sei, den sie im Schlosse gesehen hatte; aber sie wagte nicht, den Vater nach dem andern Jäger zu[77] fragen. Sie weinte nur heimlich, denn ihr Herz schlug dem andern entgegen.

Und jener arme Jäger lag in seinem Hasenfelle ein ganzes Jahr lang tot unter der Erde. Da fühlte er sich mitten in der Nacht aus seinem tiefen Schlaf erweckt. Siehe da! Vor ihm stand der wohlbekannte Geist des Leichnams, den er hatte beerdigen lassen. Er erzählte ihm von dem Verrat des Jägers und sagte dann mit froher Stimme: »Morgen soll die Hochzeit sein. Geh schnell ins Schloß, die Prinzessin wird Dich gleich erkennen, und der falsche Jäger auch.«

Schnell sprang der Jüngling auf und ging mit klopfendem Herzen ins Schloß des Königs. Eine große Gesellschaft war da, alle Gäste aßen und tranken nach Herzenslust. Die schöne Prinzessin erkannte ihn sofort: vor Freude schrie sie laut auf und sank in Ohnmacht. Aber der böse Jäger wurde vor Schrecken blaß und grün.

Da erzählte der arme Jüngling, wie er verraten und ermordet worden war, und um vor allen ein Zeugnis für die Wahrheit des Gesagten abzulegen, verwandelte er sich in ein schlankes Reh und fing an, die Prinzessin zu liebkosen. Sie aber legte den Streifen Fell, den sie ihm herausgeschnitten hatte, auf den Rücken, und der Streifen wuchs sogleich daran fest. Dann verwandelte er sich in einen Hasen, und die Prinzessin legte ihm wieder den herausgeschnittenen Streifen Fell auf den Rücken; er paßte genau hin. Alle waren darüber erstaunt, – noch mehr aber, als sich der Jüngling gar zur Krähe machte. Die Prinzessin zog die Federn hervor, die sie ihm in ihrem Kupferschlosse herausgerissen hatte, und sogleich wuchsen die Federn zusammen.[78]

Da befahl der König, den schändlichen Jäger hinzurichten. Der getreue Jüngling erhielt die Hand der Prinzessin, und diese weinte nicht mehr, denn der Wunsch ihres Herzens war nun erfüllt.

Quelle:
Volkssagen und Märchen aus Polen von K. W. Woycicki. Breslau: Verlag von Priebatschs Buchhandlung, 1920, S. 74-79.
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