Die Pestjungfrau.

[41] Einmal war die Pest im Lande. Da standen alle Dörfer öde, und alle Hähne waren heiser, kein einziger konnte krähen. Die Hunde konnten nicht mehr bellen[41] wie früher; aber sie rochen und sahen das Gespenst von weitem. Sie knurrten und suchten es zu packen, und die Pestjungfrau neckte und reizte sie mit wahrer Schadenfreude.

Ein Bursche schlief auf einem hohen Heuschober, und neben ihm stand eine Leiter. Die Nacht war still und mondhell. Plötzlich entsteht in der Ferne ein mächtiges Brausen, wütiges Geknurre und Geheul der Hunde schallt herüber. Der Bursche steht auf und sieht zu seinem Schrecken, wie eine hohe weibliche Gestalt in weißem Gewande und mit fliegenden Haaren auf ihn zujagt. Ein langer hoher Zaun ist auf dem Wege: das Weibsbild springt mit einem Satz hinüber und klettert die Leiter hinauf. Hier, auf diesem sichern Platze, hält sie neckend ihren Fuß den Hunden hin. So reizt sie die wütende Meute und ruft beständig: »Huß, huß – den Fuß! Huß, huß – den Fuß!«

Der Knecht erkannte sogleich die furchtbare Jungfrau. Drum ging er leise zu der Leiter hin und stieß das obere Ende mit aller Gewalt ab. Das Weibsbild fiel hinunter, die Hunde packten sie: da drohte sie noch mit ihrer Rache und verschwand.

Der junge Bursche starb zwar nicht, aber sein Lebenlang hielt er den einen Fuß vor und konnte nichts anderes sagen, als die Worte der Jungfrau: »Huß, huß – den Fuß! Huß, huß – den Fuß!«

Quelle:
Volkssagen und Märchen aus Polen von K. W. Woycicki. Breslau: Verlag von Priebatschs Buchhandlung, 1920, S. 41-42.
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