[206] Es war einmal ein Herr, der hatte einen Knecht, einen Taugenichts sondergleichen. Eines Tages sagte sein Herr zu ihm: »Wenn du meiner Frau den Ring von dem Finger nimmst, bekommst du 100 Taler.«
In der folgenden Nacht holte der Knecht einen Toten vom Kirchhof, stellte ihn in das Fenster des Herrn und rief: »Den Ring will ich haben!« Der Herr nahm die Pistole, schoss nach der Gestalt und traf sie, so dass sie hinfiel. Darauf ging er hinaus, um zu sehen, wer das wäre. Währenddessen schlich sich der Knecht in die Stube hinein und rief der im Bette liegenden Frau seines Herrn zu: »Gib mir den Ring in Verwahrung; es könnte sonst ein zweiter kommen und ihn dir nehmen.« Die Frau gab ihm den Ring, und der Knecht schlich sich wieder heraus. Am nächsten Tage musste ihm der Herr die 100 Taler geben.
Davon erfuhr aber der Geistliche des Dorfes und hielt dem Knecht eine derbe Strafpredigt wegen des Toten. Der Knecht beschloss, sich dafür zu rächen. Er ging an den Fluss und fing einen Sack voll Krebse. Diese trug er in die Kirche,[206] klebte jedem der Krebse eine Kerze auf den Rücken, zündete dieselbe an und liess dann das Tier laufen. Darauf zog er ein langes weisses Hemd über und stellte sich beim Altar auf. Bald war die Kirche von den vielen Lichtern erhellt. Als das dem Geistlichen hinterbracht wurde, ging er in die Kirche, fand die vielen Flämmchen und sah am Altar die weisse Gestalt stehen. Diese fing an zu reden und sagte, sie wäre der heilige Michael und sei gekommen, um den Geistlichen mit in den Himmel zu nehmen. Nun musste der Geistliche in einen Sack kriechen. Der Knecht band ihn fest zu, fasste ihn beim Zipfel und schleppte ihn hinter sich her.
Es war aber ein hartes und spitzes Pflaster, und der Geistliche wurde jeden Augenblick an einen Stein geschleudert, worüber er den heiligen Michael jedesmal zur Rede stellte. Dieser suchte ihn zu beruhigen und sagte ihm, dass dies Pflaster die Busse für seine Sünden sei. Er solle jetzt nur stille sein, denn nun ginge die Fahrt nach oben. Damit hängte er den Sack mit dem Geistlichen an einem Baum auf und ging davon. Der Geistliche wartete vergebens auf die Ankunft im Himmel. Die Fahrt kam ihm etwas lang vor, aber doch hielt er geduldig aus. Als es Tag geworden war, trieb ein Schweinehirt seine Herde des Weges. Als der Geistliche das Grunzen der Schweine vernahm, glaubte er nicht nach dem Himmel, sondern nach der Hölle zu steigen, da es ja im Himmel keine unreinen Tiere geben könne. Er fing deshalb laut zu schreien an und wurde nun von dem Schweinehirten von seiner luftigen Fahrt befreit. Der Knecht aber war längst über alle Berge.
Aus polnischer Quelle. – Vgl. Grimm, KHM. nr. 192 ›Der Meisterdieb‹.