Das Mädchen vom Balkon

[61] Es war einmal ein Händler, der hatte eine Tochter, die so schön war wie die Sterne und so durchtrieben wie kleine Teufel. An ihren Balkon stieß der Garten des Königs. An jedem Nachmittag begoß sie ihre Blumen, und darunter befand sich ein prächtiges[61] Basilienkraut. Der König gewann großen Gefallen an ihr und wartete zur bestimmten Stunde schon, um sie zu sehen, und jedesmal fragte er sie:


Mädchen, da du von

so großer Klugheit bist,

kannst du mir sagen,

wieviele Blätter dein Basilienkraut hat?


Sie erwiderte ihm darauf:


Majestät, Ihr könnt

lesen, schreiben und rechnen,

aber wißt Ihr auch,

wieviele Sandkörner das Meer hat?


Da besann sich der König, wie er dem Mädchen einen Streich spielen könnte, und er nutzte die Gelegenheit, als der Händler einmal verreist war. Er besorgte sich einen Koffer mit Kurzwaren und ging als Trödlerin verkleidet zum Hause des Mädchens. Ohne Argwohn ließ die Tochter des Händlers sie eintreten. Der König hatte einen prächtigen Ring dabei, der dem Mädchen über die Maßen gefiel. Sie pries ihn sehr und es schmerzte sie, daß sie ihn nicht kaufen konnte. Aber die Trödlerin sagte ihr: »Mein Fräulein, ich schenke Euch den Ring, wenn Ihr mir einen Kuß gebt, denn ich bin vernarrt in Euch, und wäre es auch nur auf den Schleier, den ich vor dem Gesicht trage.« Und eh' man sich's versah, hatte das Mädchen den Kuß gegeben und den Ring erhalten.

Als sie am Nachmittag die Blumen goß, erschien der König und fragte wie gewöhnlich:


Mädchen, da du von

so großer Klugheit bist,

kannst du mir sagen,

wieviele Blätter dein Basilienkraut hat?
[62]

Und sie gab sogleich zurück:


Majestät, Ihr könnt

lesen, schreiben und rechnen,

aber wißt Ihr auch,

wieviele Sandkörner das Meer hat?


Und der König, der nichts gesagt hatte, fuhr fort:


Und jener Kuß, den du

– wenngleich nur auf den Schleier – gabst ...


Dem Mädchen stockte das Herz. Sie wurde ganz rot und schwor bei sich, daß sie sich rächen würde. Eines Tages verkleidete sie sich als Negerin und ging zum Königspalast, um ihre Dienste als Magd anzubieten. Zuerst aber vereinbarte sie mit dem Diener des Königs, daß er auf dessen Balkon bei Nacht eine Ziege bringen würde, die man im Garten hielt. Der König behielt die kleine Negerin sogleich für sich, denn sie war sehr hübsch, und aus Furcht, daß sie ihm weglaufen könnte, brachte er sie in ein Zimmer neben dem seinen und befestigte an ihrem Arm ein Band. In der Nacht zog der König an dem Band, und er fühlte, daß die Negerin noch da war. Aber sobald der König fest eingeschlafen war, band sich das Mädchen los, holte ganz leise die Ziege, band sie an seiner Stelle fest und ging fort. Als der König aufwachte, dachte er an die entzückende kleine Negerin und zog sie an dem Band in sein Bett. Aber die Ziege begann zu meckern und der König erschrak und schrie, er hätte den Teufel im Haus. Da eilten viele Leute herbei, und alle sahen statt der Negerin die Ziege im Zimmer des Königs. Am Nachmittag des folgenden Tages besuchte der König die Tochter des Händlers, die ihre Blumen goß, und er fragte sie:


Mädchen, da du von

so großer Klugheit bist,

kannst du mir sagen

wieviele Blätter dein Basilienkraut hat?
[63]

Und sie gab zur Antwort:


Majestät, ihr könnt

lesen, schreiben und rechnen,

aber wißt Ihr auch

wieviele Sandkörner das Meer hat?


Der König sagte:


Und der Kuß auf den Schleier? ...


Und sie:


Und die Ziege, die mäh, mäh machte? ...


Der König erkannte, daß sie ihn zum besten gehabt hatte, aber er hielt es für einen guten Scherz. Doch das Mädchen wollte es dabei nicht bewenden lassen. Sie hörte, daß der König zur Jagd gehen wollte, verkleidete sich als Mann, stieg auf ein Maultier, nahm eine Maske mit und folgte dem Zug von weitem. Nach einer langen Strecke Wegs ließ der König ein Weilchen rasten und verlangte, daß man ihn allein ließ. Sowie alle Edelleute sich weit entfernt hatten, zog das Mädchen die Maske aus der Tasche, holte einen Dolch hervor und stürzte auf den König, als ob sie ihn töten wollte, und schrie dabei: »Küßt meinem Maultier den Schwanz, oder ich töte Euch auf der Stelle!« In seiner Bedrängnis und da niemand dabei war, küßte der König den Schwanz des Maultiers. Das Mädchen kehrte nach Haus zurück. Am nächsten Tag goß sie ihre Blumen und der König erschien mit den üblichen Fragen:


Mädchen, da du von

so großer Klugheit bist,

kannst du mir sagen,

wieviele Blätter dein Basilienkraut hat?
[64]

Und sie:


Majestät, Ihr könnt

lesen, schreiben und rechnen,

aber wißt Ihr auch

wieviele Sandkörner das Meer hat?


Und der König:


Und jener Kuß, den du

– wenngleich nur auf den Schleier – gabst? ...


Sie:


Und die Ziege, die mäh, mäh machte? ...


Der König:


So stell' dich doch nicht gar so wild.


Sie:


Und der Kuß auf den Schwanz des Maultiers?


Der König dachte an das, was geschehen war und lachte herzlich darüber. Und als der Händler zurückgekehrt war, hielt er bei ihm um die Hand seiner Tochter an, denn mit einer so aufgeweckten Frau mußte er ja zwangsläufig sehr glücklich werden.

Quelle:
Braga, T.: Contos tradicionaes do povo portuguez. [I:] Contos de fadas - Cassos e facecia - Notas comparativas. 2. Auflage, Lisboa 1914, S. 61-65.
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