Die Schanänn-Jungfrau.

[9] In der Nähe der Fidriser-Au, an dem Fußwege nach dem Dorfe Jenatz, steht ein kleines Haus, bei welchem man lange Jahre Nachts eine Jungfrau, riesengroß, in weißem Kleide, mit bleichem Gesichte und fliegenden, dunklen Haaren, lautlos umherschwebend, erblickte, welche die Wanderer um Erlösung anflehte und künftige Dinge ihnen voraussagte. – Diese bleiche Seherin ist die Schanänna-Jungfrau. Jetzt ist sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen worden. Das kleine Haus ist noch bewohnbar, aber:


»Dort scheint ein langes, ew'ges Ach zu wohnen;

Aus jenen Mauern weht es uns entgegen

In dumpfen Lüften, die sich leise regen.«


Der Wanderer, der verspätet, von der Dunkelheit überrascht, hier vorbeigeht, hört, bald ferne, bald nahe, ein klägliches Stöhnen und Wimmern. Manchem tritt dieser Spuk, die im ganzen Thale bekannte Schanänna-Jungfrau, selbst entgegen, und enthüllt ihm die grause Sage von den nahen Trümmern ihrer väterlichen Burg Strahlegg, und den Unthaten ihres Vaters, sowie von dem Untergange ihres Geschlechtes; oder sie verkündet ihm, als oft erprobte Seherin, Dinge der Zukunft. Auch in den Trümmern besagter Burg soll sie zu sehen sein, und in riesengroßer, grauenerregender Gestalt, in weißem Kleide erscheinen. Wenige Sterbliche (nur Sonntagskinder,[9] die mehr zu sehen bekommen, als andre Leute), die ihrer ansichtig geworden, brachten sie zum Geständnisse einer schweren Schuld ihres Vaters, weßhalb sie auch umgehen müsse, und nur erlöst werden könne


Von Jenem, der der Erste sei gebettet

In einer Wiege, die aus Brettern man gefügt

Der Tanne, welche wuchs, wo sie gekettet. –


Ihr Vater, ein reicher Mann, bewohnte außer dem Schlosse Strahlegg, auch in der Nähe der Fidriser-Au ein Haus. Zu ihm kam, als das Mägdlein noch in der Wiege lag, einst ein armer Mann, der um eine Gabe ihn bat; der Reiche verweigerte dieselbe. »So will ich dir etwas geben«, entgegnete der Arme, und gab ihm eine Nuß, »die setze neben dem großen Stein«. Er that, wie der Arme ihn geheißen; »aus der Nuß wächst ein Baum, aus dem Baum ein Zweig, aus dem Zweig ein Ast, und aus dem wird man eine Wiege machen, und das Kind, das in jener Wiege liegen wird, das soll deine Tochter da erlösen, und die muß bis dahin dein Geld hüten.« Der Reiche wollte alsobald die verwünschte Nuß wieder aus dem Boden hervorgraben, statt deren sproßte bereits ein Zweiglein ihm entgegen, und weiteres Unheil ahnend, wenn er dasselbe berühre, überließ er sich, durch das weite Feld irrend, der Verzweiflung. – Seine Tochter wuchs heran, aber sie wurde ihres Lebens nicht froh; ihr schönes, bleiches Gesicht zeugte von innerem Grame und viele Jahre nach ihrem Tode muß sie die Schätze ihres Vaters hüten, bis ihre Erlösung bewirkt ist.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 9-10.
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